Blutrünstige Cannes-Filme Kannibalen in Zivil
Gut, dass man im Festivalstress so selten zum Essen kommt. Man könnte es angesichts der Filme auch kaum bei sich behalten. Abgehackte Füße, angenagte Oberschenkel, ausgesaugte Pulsadern: Um dem menschlichen Wesen nahe zu kommen, gehen die Filme in Cannes 2016 buchstäblich unter die Haut und lassen dabei das Blut so richtig spritzen.

Szene aus "Grave"
Foto: Semaine de la Critique du CannesBei der Premiere ihres Films "Grave" (Schlimm) in der Nebenreihe "Semaine de la critique" war Julia Ducournau so aufgeregt, dass sie den Tränen nahe war. Bei der Inszenierung ihres Debütfilms kann die junge Französin aber kaum mit der Wimper gezuckt haben. Weil im Kartoffelbrei von Justine (Garance Marillier) ein Fleischstückchen steckt, beschwert sich ihre Mutter lauthals in der Autobahnraststätte. Die gesamte Familie lebt schließlich vegetarisch, Mutter, Vater, die jüngere Tochter Justine und die ältere Tochter Alexia (Ella Rumpf) auch. Letztere ist schon Studentin an der Veterinärfakultät, an der bereits die Eltern studierten. Nun soll auch Justine als letzte in der Familie Tierärztin werden, als Ausnahmeschülerin hat sie sich schon mit 16 Jahren für die Uni qualifiziert.
Die erste Nacht im Studentenwohnheim wird jedoch schlaflos: Die älteren Studierenden sammeln die Erstsemester ein und unterziehen sie eine ganze Woche lang gnadenloser Initiationsriten. Unter größtem Protest würgt Justine eine Kaninchenleber herunter, wenig später zeigt ihr magerer Körper bereits eine heftige allergische Reaktion. Und trotzdem scheint sie auf den Geschmack gekommen zu sein. In der Kantine greift sie plötzlich zum Hacksteak, von ihrem Mitbewohner lässt sie sich zum besten Schawarma-Laden der Stadt fahren - und als ihre Schwester bei einem Unfall zu Hause einen Finger verliert, vernascht Justine auch den.
Der Hunger, der in Justine geweckt ist, ist in doppeltem Sinne nach menschlichen Fleisch: Mit dem Kannibalismus entdeckt sie auch ihre Sexualität, und fortan gerät jede ihrer Kontaktaufnahmen zu Mitstudierenden zu einer Jagd, die entweder im Bett oder in einer Blutlache enden kann. Grandios gelingen Ducournau die Bilder von Justines fleischlicher Erweckung, nicht zuletzt auch dank des herausragenden Make-ups und den grausam gut gelungenen Prothesen. Auch wenn die dramaturgischen Linien in "Grave" oft noch ins Leere zielen: Mit diesem Film hat sich Julia Ducournau auf Anhieb einen Namen gemacht als jemand, der sowohl Horror als auch Coming-of-Age-Geschichte kann.

Filmszene aus "Câini"
Foto: EPA/ CANNES FILM FESTIVAL/ DPAFast fühlt man sich durch "Grave" gut vorbereitet für das, was einen bei dem rumänischen Film "Câini" (Hunde) in der Reihe "Un Certain Regard" erwartet. Kurz brodelt es unter der Oberfläche des mit Entengrütze bedeckten Teichs, dann ploppt etwas an die Oberfläche, das offensichtlich aus Fleisch und Knorpeln besteht. Was es genau ist, das erkundet Dorfpolizist Hogas (Gheorghe Visu) nach dem Abendessen am heimischen Esstisch: ein Fuß, am Knöchel abgerissen und mit Bissspuren versehen.
Der einzige Mensch, der in dem verlassenen Landstrick vermisst wird, ist der Besuch, den Roman (Dragos Bucur) vor Kurzem erhalten hat. Roman hat soeben einen Bauernhof samt etlichen Hektar Land von seinem Großvater geerbt. Nun will der wohlhabende Bukarester schnell verkaufen. Doch das Verschwinden seines Bekannten, der ihm bei den Verträgen helfen sollte, lässt ihn misstrauisch gegenüber den Männern werden, die die längste Zeit für seinen Opa gearbeitet haben und ihm nun sehr nachhaltig davon abraten, das Land zu verkaufen. Doch was kann er zusammen mit dem kränklichen Dorfpolizisten schon gegen die Männer ausrichten?
Die unbändige Hündin, die Roman auch noch geerbt hat, heißt übrigens Polizei, und das ist ein wahrlich sprechender Name in diesem reizvollen Debütfilm. Zum einen macht er klar, wo die Menschen im Dorf die wahren Autoritäten sehen - in den wilden Kreaturen, die bellen und beißen. Und zum anderen verweist er auf den filmischen Kontext, in dem "Câini" zu verorten ist. Hauptdarsteller Dragos Bucur hatte seinen Durchbruch in Corneliu Porumboius "Police, Adjective", einem Klassiker des neuen rumänischen Kinos und Gewinner des Jurypreises von "Un Certain Regard" 2009.
Wie Porumboiu gelingt es Autor und Regisseur Bogdan Mirica zunächst, Suspense, Milieustudie und grotesken Humor zusammenfließen zu lassen und das Publikum aufs Schönste im Unklaren zu lassen, ob man es als nächstes mit Mord und Totschlag oder einem harmlosen Grillabend unter Nachbarn zu tun hat. Im letzten Drittel schlägt Mirica dann aber doch den Weg Richtung Genre ein und kommt an einem Ende heraus, das weniger hält, als der tolle Anfang versprochen hat.

Szene aus "The Transfiguration"
Foto: Festival de CannesVon so einer Enttäuschung kann bei Michael O'Sheas "The Transfiguration" (ebenfalls in "Un Certain Regard") keine Rede sein, der US-Amerikaner lässt seinen New Yorker Vampirfilm so trostlos enden, wie er ihn begonnen hat. Ob er daran gedacht habe, Tieren etwas anzutun, oder es sogar wieder getan habe, wird Milo (Eric Ruffin) von der Schulpsychologin gefragt. Nur gedacht, nicht getan, antwortet er. Man muss es ihm wohl glauben, denn wenn der 16-Jährige jemandem etwas antut, dann sind es Menschen.
Milo ist nämlich Vampir und muss mindestens einmal im Monat Blut trinken. Dann streicht er sorgsam einen roten Kreis im Kalender durch, ebenso sorgsam wie er in diversen Notizbüchern aufschreibt, was er aus "Nosferatu" oder "So dunkel die Nacht" über Vampire gelernt hat und wie realistisch die Darstellung im Abgleich mit seinem eigenen Leben ist ("Knoblauch: geht, Sonnenlicht: auch okay").
Was nach Meta-Komödie klingt, ist in Wahrheit eine todernste filmische Angelegenheit. Milo ist verwaist und wohnt zusammen mit seinem Bruder Lewis (Aaron Moten), einem Kriegsveteran, in einer vornehmlich schwarzen Sozialbausiedlung. Als sich Milo mit dem weißen Mädchen Sophie (Chloe Levine) anfreundet, gibt es Ärger mit der Jungsgang, die die Siedlung kontrolliert. Und als Milo zusieht, wie diese Gang einen Weißen tötet, der bei ihnen Drogen kaufen will, gibt es noch viel mehr Ärger.
Mit Hilfe von Vampirfiguren haben Filme und Serien in den letzten zehn Jahren viele gesellschaftspolitische Themen aufgeschlüsselt: sowohl Enthaltsamkeit ("Twilight") als auch LGBTQ-Rechte ("True Blood") und Gewalt an Frauen ("A Girl Walks Home Alone at Night"). Doch bei Rassismus und Polizeigewalt in den USA will das partout nicht funktionieren. Außer ein bisschen Genre-Kitzel steuert Milos Vampirsein nichts zur Geschichte bei, gut hätte O'Sheas kluge Studie von marginalisierten Männlichkeiten ohne den Kniff auskommen können.
Wie passend, dass als nächstes im Wettbewerb "Paterson" ansteht, der neue Film von Jim Jarmusch. Der war zuletzt mit "Only Lovers Left Alive" auf dem Festival vertreten - einem richtig guten Vampirfilm.