Cannes-Tagebuch Buhrufe für Matthew McConaughey
In unserem digitalen Zeitalter ist fast alles messbar und berechenbar, nur eines nicht: Wann Gus Van Sant mal wieder einen guten Film macht. Über acht Jahre sind seit dem grandiosen "Paranoid Park" vergangen, danach rückten seine Filme zusehends an den Kitschabgrund. Dass sein neuestes Werk, das Suiziddrama "The Sea of Trees" mit Matthew McConaughey in der Hauptrolle, für den Wettbewerb von Cannes ausgewählt wurde, ließ hoffen, dass Van Sant wieder zu alter, palmenwürdiger Form gefunden hätte. Doch mit "The Sea of Trees" rückt er nicht weiter an den Kitschabgrund heran, er stürzt ihn regelrecht hinunter.
"A perfect place to die" googelt Arthur (Matthew McConaughey), als er mit der Planung seines Suizids beginnt. Gleich das erste Suchergebnis überzeugt ihn: Der Aokigahara-Wald in Japan soll es sein. Kaum in dem für seine hohe Suizidrate berüchtigten Wald am Fuße des Fuji-Berges angekommen, legt Arthur einen Umschlag für seine Frau Joan ab und nimmt eine erste Pille. Doch bevor er eine tödliche Dosis schlucken kann, stört ihn ein anderer Lebensmüder. Takumi (Ken Watanabe) hat sich nur halbherzig die Pulsadern aufgeschnitten, jetzt will er doch leben und braucht dafür Arthurs Hilfe. Mit für einen Suizidwilligen erstaunlicher Energie nimmt sich Arthur, anpackender Amerikaner, der er ist, der Aufgabe an.
Wohin es mit den beiden Männern im Folgenden geht, wird gleich in der nächsten Szene geklärt: Im Zwiegespräch darüber, warum sie sich töten wollen, äußert Arthur Zweifel an der Existenz Gottes - und stürzt daraufhin eine tiefe Böschung hinunter. Zum Glück hat er einen Asiaten an seiner Seite, der sich nicht nur medizinisch, sondern auch spirituell um ihn kümmern kann. Denn in der Sinnkrise lohnt es sich für einen Westler immer, sich gen fernöstliche Lebensweisheit zu orientieren.
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll mit der Aufzählung der schrecklichen Fehlgriffe und Misstöne in "The Sea of Trees", von seinem miesen Orientalismus bis zu seiner grauenhaft süßlichen Musik. Grotesk unlogische und irrsinnig kitschige Drehbucheinfälle reihen sich hier aneinander, das einzig Fantasievolle an ihnen ist ihre schiere Masse. Vielleicht hat Drehbuchautor Chris Sparling "awesome plot points" gegoogelt? Wenn ja, hat er sich wie seine Hauptfigur Arthur mit den erstbesten Suchergebnissen zufriedengegeben.
Selbst Matthew McConaughey kann hier nichts mehr ausrichten. Er bietet nur eine lasche Variante der körperlich wie seelisch aufs Härteste geprüften Heldenfigur, die ihn in den vergangenen Jahren zum Superstar und Oscar-Gewinner gemacht hat. Eine rundum genervte Kritikerschaft begleitet die letzten Bilder von "The Sea of Trees" mit lauten Buhrufen.

Nanni Morettis "Mia Madre": Schauspielerinnen Margherita Buy und Beatrice Mancini in Cannes
Foto: Pool/ Getty ImagesSubtileres Pathos fährt Nanni Moretti im anschließenden Wettbewerbsfilm "Mia Madre" (Meine Mutter) auf. Im Mittelpunkt steht die Filmregisseurin Margherita (Margherita Buy), die gerade einen Film über einen Arbeitskampf in einer Fabrik dreht, als ihre Mutter (Giulia Lazzarini) schwer erkrankt. Fortan versucht Margherita, die aufreibenden Dreharbeiten mit regelmäßigen Besuchen im Krankenhaus zu verbinden. Als ihr amerikanischer Hauptdarsteller Barry (John Turturro) auf dem Set eintrifft, sie erst für seine Chauffeurin hält und dann seinen Text vergisst, ist es jedoch vorbei mit Margheritas prekärer seelischer Balance. Sie fängt an zu zweifeln, an ihren Beziehungen und an ihrer Arbeit. Nur dass ihre Mutter weiterleben wird - davon ist sie trotz aller gegenteiligen ärztlichen Befunde überzeugt.
Mit großer Geduld und in würdevollen Bildern erzählt Moretti vom langsamen Siechtum der Mutter. Bei ihr findet "Mia Madre" zu seinen zärtlichsten Momenten. Für seine Hauptfigur Margherita hat Moretti dagegen deutlich weniger Mitgefühl. Er scheint zwar auf ihrer Seite zu sein, wenn er sich mit ihr durch den Irrsinn von Dreharbeiten kämpft. Doch das dröge Sozialdrama, das sie dreht, möchte man auf keinen Fall in echt sehen. Mehr noch: Man weiß nicht, ob sie als Regisseurin überhaupt etwas taugt. Ihre einzige Regieanweisung an die Darsteller, dass sie immer auch sich selbst neben der Rolle spielen sollen, verstehen diese nicht. Und sie selber eigentlich auch nicht.
Bei einer kreativen Schaffenskrise will es Moretti aber nicht belassen, er setzt Margherita auch auf persönlicher Ebene zu. Ihre pubertierende Tochter hat ihr nicht von ihrer ersten Liebe erzählt, ein ehemaliger Liebhaber wirft ihr emotionale Kälte vor, und kochen - das macht der Film gleich zwei Mal deutlich - kann sie auch nicht. Weil das als Demontage aber immer noch nicht reicht, setzen Moretti und seine Co-Autoren Francesco Piccolo und Valia Santella Margherita gleich zwei Gegenentwürfe entgegen. In einer äußerst eitlen Nebenrolle spielt Moretti ihren Bruder Giovanni, der seine Work-Life-Balance bestens im Griff hat und der kranken Mutter frisch gekochte Pasta und sorgfältig filetierten Fisch ans Krankenbett bringt. Die Mutter selbst ist wiederum eine tolle Lehrerin gewesen, deren Schüler sie noch nach Jahrzehnten besuchen und von ihr als Ersatzmutter schwärmen.
Von solchen Liebes-, ja sogar einfachen Respektbekundungen ist Margherita indes weit entfernt. Warum? Weil sie sich für den Beruf der Regisseurin und gegen die Fürsorglichkeit entschieden hat, legt "Mia Madre" als Deutung nahe. Cannes und die Regisseurinnen - das scheint sogar auf der Leinwand ein schwieriges Verhältnis zu sein.