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Filme von den Dardennes und Ryan Gosling: Ein Hoch auf die Solidarität

Foto: Christine Plenus/ Festival de Cannes 2014

Cannes-Tagebuch Freundschaft in den Zeiten des Neoliberalismus

Endlich hat Cannes seine Favoriten: Für die Goldene Palme - und für den Hauptdarstellerinnen-Preis. Außerdem gibt es Antwort auf die zweitwichtigste Frage des Festivals: Was taugt das Regiedebüt von Ryan Gosling?

Die wichtigste Frage zuerst: Wer gewinnt die Goldene Palme? Womöglich zum dritten Mal die Dardenne-Brüder Jean-Pierre und Luc. Mit "Deux jours, une nuit" (Zwei Tage, eine Nacht) haben sie ein Sozialdrama vorgelegt, das in seinen filmischen Mitteln noch reduzierter ist als ihre vorherigen Gewinnerfilme "Rosetta" (1999) und "Das Kind" (2005), aber ebenso beeindruckt in seiner erzählerischen Konsequenz und großen Menschlichkeit.

13 zu 3. So steht es am Freitagabend nach einem ersten Votum gegen Sandra (Marion Cotillard). Der Abteilungschef einer kleinen Solaranlagenfirma hat darüber abstimmen lassen, ob die Belegschaft einen Bonus haben will oder auf ihr Geld verzichtet, um Sandra weiter zu beschäftigen. Und die Mehrheit hat sich gegen die Kollegin entschieden, die sich nach ausgestandener Depression langsam wieder einarbeiten wollte.

Doch eine solidarische Kollegin flüstert Sandra ein, dass ein anderer Kollege Lügen über die Situation im Betrieb erzählt und damit die Abstimmung beeinflusst habe. Die Kollegin, aber auch Sandras fürsorglicher Mann Manu (Fabrizio Rongione) drängen sie daraufhin, das Wochenende zu nutzen, um die Kollegen davon zu überzeugen, in einem zweiten Votum am Montagmorgen für ihren Verbleib zu stimmen. So beginnen zwei Tage und eine Nacht des Kampfes für ein wenig Solidarität.

Marion Cotillard spielt Sandra mit einer wunderbaren Zurückgenommenheit, die man ihr nach den spektakulären Auftritten in "La vie en rose" oder "Der Geschmack von Rost und Knochen" fast nicht mehr zugetraut hätte und die sie aus dem Stand zur Favoritin für den Preis als beste Darstellerin macht. Doch fast noch toller ist es, wie die Dardennes Sandras Figur nutzen, um nicht nur die Emanzipationsgeschichte einer Frau von ihrer Krankheit zu erzählen, sondern mit jedem ihrer Besuche bei einem Kollegen eine dramatische Miniatur schaffen.

Der Wintergarten, der abbezahlt werden muss; die befristete Stelle, die bei einem für den Betrieb unbequemen Votum nicht verlängert wird; die Ausbildung der Kinder, die teuer zu Buche schlägt - jede Tür, die sich Sandra öffnet, bietet einen Einblick in die alltäglichen Nöte von Menschen in der unteren Mittelschicht. Und wenn Sandra eine Tür verschlossen bleibt, dann erzählt das mindestens genauso viel über Freundschaft und Zusammenhalt in Zeiten des Neoliberalismus. Jetzt kann eigentlich nur noch Ken Loach, der andere große Menschenfreund unter den Regisseuren, den Dardenne-Brüdern den Anspruch auf die Goldene Palme der Herzen streitig machen.

Ohrenbetäubendes Schlagzeugspiel

30, maximal 40 Seiten kann das Drehbuch zu "Whiplash", dem Sundance-Gewinnerfilm, der in der Nebenreihe "Quinzaine des Réalisateurs" lief, umfasst haben. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern ohrenbetäubendes Schlagzeugspiel. Aus einem eigenen Kurzfilm hat der US-amerikanische Regisseur Damien Chazelle ein Lehrer-Schüler-Drama entwickelt, das einen körperlich packt, wie es zuvor allein "Foxcatcher" vermochte.

Andrew Neimann (Miles Teller) ist ein sozial etwas unbeholfener 19-Jähriger, der am Musikkonservatorium in New York umso mehr auftrumpft. Als höchstambitionierter Jazz-Schlagzeuger zieht er bald die Blicke und die Ohren von Professor Fletcher (J.K. Simmons) auf sich, der ihn prompt in die anspruchsvollste Band der Musikschule einlädt. Eine erste, gelungene Probe reicht sicherlich aus, um Fletcher von seinem Talent zu überzeugen, denkt sich Andrew.

Doch ab dem Zeitpunkt seiner ersten Begegnung mit dem Lehrer gestaltet sich Andrews Leben nurmehr als brutalste Prüfung: Bei den Proben trommelt er sich die Hände wund. Zu welchem Preis kann er den Ansprüchen seines nie zufriedenen Lehrers genügen? Und wie lang kann er dessen gröbsten Beleidigungen standhalten?

Mit extensivem Fluchrepertoire gibt J. K. Simmons ("Juno"), eigentlich einer der großen väterlichen Sympathieträger des US-Kinos, einen wahrhaft formidablen Lehrer ab. Immer wieder nimmt man ihm wider besseren Wissens ab, dass es allein der Glaube an die unendliche Belastbarkeit des wahren Genies ist, der ihn zu den emotionalen Übergriffen auf seine Schüler drängt. Miles Teller ("Divergent", "Für immer Single?") ist dagegen das sinnliche Babyface, in dem manchmal Unschuld und manchmal elvishafte cockiness aufblitzt. Bei ihm weiß man nie, ob das sadistische Vorgehen seines Lehrers nicht genau das ist, was er bei seinem sanften Vater immer vermisst hat. Und so entwickelt sich zwischen den beiden ein Verhältnis, bei dem man bis zum Schluss nicht weiß, ob es pervers ist - oder pervers produktiv.

Kampf mit den Dämonen

Ein Schüler-Lehrer-Verhältnis möchte man auch bei Schauspieler Ryan Gosling und Regisseur Nicolas Winding Refn vermuten. Refns stylisher Cannes-Triumph "Drive" (2011) katapultierte Hauptdarsteller Gosling vom romantischen leading man zum Kultstar, mit der entschleunigten Gewaltorgie "Only God Forgives" unterliefen beide im vergangenen Wettbewerbsjahrgang äußerst smart die in sie gesetzten Erwartungen.

Goslings Regiedebüt "Lost River" war demnach nicht nur für Cannes gesetzt, er galt auch als einer der mit größter Spannung erwarteten Filme in diesem Jahr. Doch während der Hollywoodstar am Dienstagabend noch mit tosendem Applaus und mit etlichen gezückten Handy-Kameras begrüßt wurde, entstand am Ende von "Lost River" eine signifikante Pause, bevor wieder geklatscht wurde.

"How to Catch a Monster" hieß der Film, den Gosling auch selber geschrieben hat, zunächst und sehr viel passender. Erst scheint es nur das Kleinkind Franky zu sein, das Angst vor Monstern unter seinem Bett hat. Doch sein großer Bruder Bones (Iain de Caestecker, "The Fades") und seine alleinerziehende Mutter Billy (Christina Hendricks, "Mad Men") haben ebenso mit Dämonen zu kämpfen. Der Teenager Bones muss es mit dem örtlichen Gangster (gespielt von ex-"Doctor Who" Matt Smith) aufnehmen, der nicht von ungefähr Bully heißt. Und Billy (jaja, die Namen...) muss sich aus Geldnot auf einen Job in einer morbiden Burlesque-Show einlassen, um das Auskommen ihrer Familie zu sichern.

Gemeinsam leben sie in der fiktiven shrinking city Lost River, als deren Inspiration Gosling das tatsächlich darniederliegende Detroit genannt hat und in dem der Film auch größtenteils gedreht wurde. Als imaginäre wie tatsächliche Kulisse taugt die marode Stadt perfekt, allein wollen Bilder, Geschichte und Musik nicht zusammengehen. Während Gosling sehr feinfühlig von den ökonomischen und emotionalen Bedürfnissen seiner Protagonisten erzählt, frachten sich hochstilisierte Bilder von urbanem Untergang tonnenschwer darüber. Hinzu kommt der uneinheitliche Soundtrack von Chromatics-Mastermind Johnny Jewel (ebenfalls an der Musik von "Drive" beteiligt), der mal Vierzigerjahre-Nummern, mal Achtziger-Synthie-Sounds drauf stapelt, ohne dass sich ein Gefühl von durchdachter Ästhetik ergeben würde.

In seinen besten Momenten wirkt "Lost River" aufregend disparat, in seinen schlechtesten Momenten werden aber die Einflüsse von Refn und vor allem von David Lynch überdeutlich. Das sind beileibe nicht die schlechtesten Einflüsse für junge Regisseurinnen und Regisseure, weshalb auch Goslings Film in seiner Hysterie und Fiebrigkeit oft genug sehenswert ist. Aber sich als Adept von Autoren zu erweisen, die ihren Status durch Unvergleichlichkeit erreicht haben, ist gleichwohl keine gute Empfehlung für höchste Höhen. Umsichtigerweise ist "Lost River" in Cannes für "Un certain regard" programmiert gewesen. In diese prestigeträchtige Nebenreihe hat der Film bestens hineingepasst. Für alles andere hätte es mit diesem annehmbaren Chaos nicht gereicht.

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