Cannes-Tagebuch Übermama Jolie gegen Täubchen Paltrow
Eigentlich fing alles schon am Montag an. Entgegen jeglicher Erwartung endete "Le silence de Lorna" das Scheinheiratsdrama der belgischen Regie-Brüder Dardenne, bei aller Tristesse moderner Lebensverhältnisse auf einer überraschend positiven Note. Das tat gut, nachdem die erste Hälfte des Filmfestivals in Cannes von Filmen dominiert wurde, die das globale Elend auf düsterste Art dokumentierten oder fiktionalisierten. Wie ein irres Zusammenspiel von Festivalprogrammierung und Naturgewalt wirkt da das seit Tagen durchwachsene Wetter an der Cote d'Azur. Fast scheint es, als weigerte sich die Sonne zu scheinen, wenn in den Festivalkinos so viel sozialer Missstand, Gewalt und Unglück gezeigt wird. Zur Halbzeit des Festivals hat man eine ganze Reihe starker und interessanter Filme gesehen, aber ein Gewinner zeichnet sich noch nicht ab. Sicher, die Dardenne-Brüder haben mit "Lorna" eine reelle Chance, ihre dritte Goldene Palme (nach "Rosetta" und "L'Enfant") zu bekommen. Auch das animierte Kriegsdrama "Waltz with Bashir" und der türkische Beitrag "Three Monkeys" liegen gut im Rennen - zumindest in der Kritikergunst. Wen oder was jedoch Jury-Präsident Sean Penn und sein Team favorisieren - das wird man erst am Sonntag erfahren.
Existentielle Themen
Penn durfte sich heute an seine eigene, erfolgreiche Zusammenarbeit mit Regisseur Clint Eastwood erinnert fühlen. 2003 war er in Eastwoods Trauma-Thriller "Mystic River" als Vater zu sehen, der seine Tochter verliert - Penns rasendes, charismatisches Spiel brachte ihm den ersehnten Oscar ein. Der US-Schauspieler wird also ein offenes Herz für Eastwoods neues Drama haben, zumal es auch in "The Exchange" um existentielle Themen wie Elternliebe, Gerechtigkeit und die Suche nach Wahrheit geht.
Angelina Jolie spielt die Telefonistin Christine Collins, die 1928 zusammen mit ihrem neunjährigen Sohn Walter in einem Arbeiter-Vorort von Los Angeles wohnt. Über die näheren Umstände der Familienverhältnisse erfährt man nichts, aber es wird schnell klar, dass der kleine Walter der Augapfel seiner Mutter ist. Als er eines Tages spurlos verschwindet, bricht für die zarte Christine eine Welt zusammen. Sie wendet sich an die Polizei und hofft, dass ihr Sprössling wieder auftauchen möge.
Das geschieht auch. Fünf Monate später präsentiert der smarte Captain Jones (faszinierend böse: Jeffrey Donovan) stolz einen Burschen, der aussieht wie Walter und auch angibt, Christines Sohn zu sein - aber dennoch ein fremder Junge ist. Die Mutter, medienwirksam am Bahnhof plaziert, um ihr Kind entgegenzunehmen, spürt sofort, dass nicht ihr eigenes Fleisch und Blut vor ihr steht, macht aber gute Miene zum bösen Spiel.
Erst als sich Hin- und Beweise häufen, dass ihr ein Kuckuckskind untergejubelt wurde, verlangt sie empört Aufklärung - und wird von Jones kurzerhand in die Klapsmühle eingewiesen. Währenddessen macht der aufrechte Detective Ybarra (Michael Kelly) eine grausige Entdeckung, die zur Überführung eines offenbar geistesgestörten Killers führt, der rund 20 kleine Jungs auf dem Gewissen hat, darunter den echten Walter - vielleicht.
Die mysteriöse, verstörende Geschichte über Polizei-Willkür, Serienkiller-Gewalt und unbeirrbare Mutterliebe kommt am Ende zu einer halbwegs hoffnungsvollen Auflösung. Mit Hilfe eines Radio-Pfarrers, der weiß, wie man die öffentliche Meinung manipuliert (exaltiert wie immer: John Malkovich) und eines Star-Anwalts, der sich des Falles auf Ehre und Gewissen annimmt, entkommt Christine nicht nur dem Irrenhaus, sondern erfährt sogar ein kleines bisschen Gerechtigkeit, als die verantwortlichen Polizisten zur Rechenschaft gezogen werden.
Kritik an Korruption und Machtmissbrauch
Klingt alles nach echtem Hollywood-Stoff, ist aber eine wahre Geschichte, die Ende der zwanziger Jahre als "Winevillle Chicken Murders" Schlagzeilen machte. Clint Eastwood, 77 ("Letters From Iwo Jima"), der sein Alterswerk anscheinend ausschließlich mit historischen Dramen bestreiten will, entwirft in "The Exchange" ein vielschichtiges Tableau unterschiedlichster Ebenen.
Mittels clever eingesetzter CGI-Technik lässt er das L.A. der Zwanziger detailreich aufleben - und nutzt das hochemotionale Mutter- und Sohn-Drama als Leinwand für unverhüllte Kritik an dem damals von Korruption und Machtmissbrauch zerrütteten Polizei-Apparat der Westküsten-Metropole.
Der Film, der gestern noch "The Changeling" ("Wechselbalg") hieß, von Eastwood aber umbenannt wurde, angeblich, weil er den Klang des französischen Titels "L'échange" so schön fand, reiht sich mit opulenten Bildern in die erste Riege aufwändig ausgestatteter Sittengemälde wie "Chinatown", "L.A. Confidential" und "Black Dahlia" ein.
Schwellende rote Lippen, schwarz umflorte Augen
Was jedoch bei aller visueller Perfektion, sorgfältiger Besetzung und hochkonzentrierter Regie auf der Strecke blieb, ist die große Emotion, das Mitgefühl, was man der leidenden Mutter entgegenbringen muss, um Tragik und Tragweite des Falles mitzufühlen. Vielleicht sieht Eastwoods Film einfach zu sauber und zu schön aus, um den Zuschauer in den Abgrund ziehen zu können, vielleicht liegt es auch am rauen Flair der anderen Wettbewerbsfilme - oder aber es liegt schlicht an Angelina Jolie.
Die US-Schauspielerin, die hochschwanger gleich mehrere Auftritte in Cannes absolviert, variiert in "The Exchange" ihre Rollen aus "Girl, Interrupted" und "A Mighty Heart", kann aber ihren grandiosen Leistungen kaum eine neue Facette hinzufügen. Das erstaunt, zumal ihr Privatleben schon seit mehreren Jahren von der Mutterrolle dominiert wird. Doch genau darin liegt die Krux: Zu sehr ist inzwischen die Person Angelina Jolie als Teil des Medien-Spektakels "Brangelina" in den Vordergrund gerückt.
Eindimensionale Leidensfigur
Das Ikonische Angelina Jolies wird durch ihr zeitgemäßes, aber sehr maskenhaftes Make-up in "The Exchange" noch verstärkt: Mit schwellenden roten Lippen und schwarz umflorten Augen gibt sie eine allzu eindimensionale Leidensfigur ab. Die argentinische Newcomerin Martina Gusman, die im Wettbewerbsfilm "Leonera" eine ganz ähnliche Rolle spielt und Jolie verblüffend ähnelt, hat eindeutig bessere Chancen auf einen Darstellerpreis.
Auch "Two Lovers", der zweite amerikanische Wettbewerbsbeitrag steht und fällt mit den darstellerischen Leistungen: Regisseur James Gray ("We Own The Night") kehrt nach Cannes mit einem für ihn ungewöhnlichen Beziehungsdrama zurück, in dem Joaquin Phoenix und Gwyneth Paltrow schön tragikomisch aneinander vorbeilieben.
Lustvoll mit allerlei Hommagen an Kino-Klassiker wie Lubitsch und Hitchcock ausgestattet, erzählt Gray die Geschichte des seelisch gebeutelten Taugenichts Leonard (Phoenix), der nach Selbstmordversuch und Therapie das Reinigungsgeschäft seines Vaters in einem New Yorker Außenbezirk übernehmen soll. Die grundanständige, aber auch ein bisschen langweilige Tochter des reichen Geschäftspartners seines Daddys bekäme er gleich noch dazu.
Aber wie es im Leben nun einmal so ist: Der Spatz in der Hand ist meist nicht so attraktiv wie die Taube auf dem Dach. Denn dort, besser gesagt: in der Wohnung darunter, wohnt Leonards Nachbarin Michelle (Paltrow), ein sprunghaftes, desorientiertes, wunderschönes Wesen, das mit einem verheirateten reichen Anwalt in Manhattan liiert ist - und natürlich nur Ärger für den linkischen Leonard bedeutet, der sich Hals über Kopf verliebt.
Phoenix und Paltrow spielen so beherzt und verleihen den Schwächen und Beschädigungen ihrer Charaktere so viel Glaubwürdigkeit, dass Grays Film am Schicksal einer schnöden "romantic comedy" mit großen Stars vorbeischrammt und bis zum optimistischen Ende sehenswert bleibt. Die wahre Entdeckung aber ist Vinessa Shaw als zunächst verpönte Heiratskandidatin Sandra: Die US-Newcomerin ("Badland") spielt ihren Part als toughes Mauerblümchen, das genau weiß, was es will, mit so viel Verve, dass man dem alles andere als hässlichen Entlein am Ende des Films von ganzem Herzen Glück wünscht.
Zwei amerikanische Filme, zwei betont hoffnungsvolle Enden, viele tolle Frauen, der siebte Festivaltag gehörte ganz der guten alten Traumfabrik - im Guten wie im Schlechten.