Cannes-Triumph "Toni Erdmann" Schutzengel mit hässlicher Perücke

Szene aus "Toni Erdmann"
Foto: NFP marketing & distributionSo einen älteren Mann mit ziemlich viel Bauch, herausstehenden Zähnen und einer Perücke, deren Rotstich nicht zum angegrauten Bart passt, der fragwürdiges Englisch spricht und sich wahlweise als Freund von Ion Tiriac oder als deutscher Botschafter in Bukarest ausgibt - so einen Mann wüsste man gern an seiner Seite, bei Business-Meetings, aber auch abends, wenn man mit Freundinnen etwas trinken geht.
Toni Erdmann heißt der Mann und ist die Titelfigur von Maren Ades Wettbewerbsfilm. Streng genommen gibt es ihn auch nicht im Film, denn er ist die Erfindung einer Filmfigur, das Alter Ego von Klavierlehrer Winfried Conradi. Doch am Ende der 164 Minuten von "Toni Erdmann" ist seine Existenz unbestreitbar - als das lustigste und hinreißendste Geschöpf, das man in Cannes 2016 bislang zu sehen bekommen hat.
Man muss wohl noch mal erwähnen, dass dieser Film vorab für viel Wirbel in der deutschen Filmbranche gesorgt hat, weil er der erste seit sieben Jahren ist, der es in den exklusiven Wettbewerb des Festivals geschafft hat. Doch alle weiteren Diskussionen - wer schon immer gewusst hat, dass Maren Ade das Zeug zu Großem hat, was das jetzt über den Zustand des deutschen Films zu sagen hat - verbieten sich, denn dieser Film steht nur für eines: für Maren Ades einzigartiges Talent, das nun endlich die große internationale Bühne bekommen hat.

Schauspielerin Sandra Hüller als Tochter Ines
Foto: NFP marketing & distributionWie schon in ihrem letzten Film "Alle anderen", der ihr 2009 den Jurypreis der Berlinale eingebracht hat, wählt Ade in "Toni Erdmann" eine Paarkonstellation aus, um ihre Zeitdiagnose zu entwickeln. Wo das Liebespaar Gitti und Chris in "Alle anderen" exemplarisch für die neuen Geschlechterdynamiken der Nullerjahre standen, rücken nun Vater Winfried (Peter Simonischek) und seine Tochter Ines (Sandra Hüller) nach und verkörpern die neue Art von Generationenkonflikt: Mittlerweile sind es nicht die Jungen, die gegen die Alten aufbegehren, sondern die Alten, die sich mehr Widerspruch von den Jungen wünschen. Doch diese sind zu sehr mit Karriere machen beschäftigt, als dass sie Zeit für jemand anderen als sich selbst hätten.
So auch Ines, die bei einem Kurzbesuch bei ihren geschiedenen Eltern lieber so tut, als müsse sie noch einen wichtigen Anruf ihrer Consulting-Firma wegen eines neuen Case in Singapur annehmen, anstatt mit ihrem Vater endlich mal wieder von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Dass ihr Vater noch als Zombie geschminkt ist, mag da nicht besonders helfen. Aber er ist eben noch auf einer Schulaufführung gewesen, bei der er mit einem Schülerchor zum Abschied eines Kollegen gesungen hat, dass man zu Tode betrübt über den Abgang sei - daher die Maskerade. (Aber auch, weil Winfried Scherze und Streiche liebt.)

Schauspieler Peter Simonischek als Vater Winfried
Foto: NFP marketing & distributionMan könne doch mal länger skypen, wenn sie zurück in Bukarest ist, wo sie an einem Outsourcing-Projekt arbeitet, vertröstet Ines ihren Vater. Er werde auf Stippvisite nach Bukarest kommen, kündigt Winfried noch an und tut genau das. Wobei er zunächst als Winfried zu Besuch kommt. Und dann als Toni Erdmann.
Man darf kaum mehr über den Film schreiben, weil man sonst die wunderbaren Wendungen vorweg nimmt, die die Geschichte von Ines und Winfried alsbald nimmt. Andererseits kann man auch kaum etwas über den Film verraten, denn sein einzigartiger Humor und seine große Empathie kommen erst über die gesamte Filmlänge zum Tragen.
Bei der durchaus plakativen Grundkonstellation - hier die verbissene Karrierefrau, dort der entspannte Lebenskünstler - bleibt es nämlich nicht. Erst erweckt Winfried sein Alter Ego Toni Erdmann zum Leben, dann zieht Ines nach, und gemeinsam durchsuchen sie ihr Leben in Rumänien, zwischen internationalem Unternehmensberater-Jetset in der Hauptstadt und einfachstem Leben auf dem Lande, auf der Suche nach ein wenig Freude.
Diese Suche führt erst zu einer Gesangsnummer von Hüller, die sie so grandios in der Schwebe zwischen Wut, Komik und Wahrhaftigkeit hält, dass es bei der ersten Pressevorführung in Cannes gleich doppelten Szenenapplaus gab. Und schließlich zu einer Party, bei der einen buchstäblich jeder Moment Tränen lachen lässt.
Das begeistert umso mehr, als dass es bereits einige ungewöhnliche Komödien im Wettbewerb zu sehen gab - Alain Guiraudies "Rester vertical" oder Bruno Dumonts "Ma Loute" zum Beispiel. Doch wo andere fettleibige Polizisten ausrutschen oder Juliette Binoche hysterisch herumschreien lassen, kann sich Maren Ade ganz auf ihr Drehbuch und ihre Schauspieler verlassen, um Komik völlig zwanglos zu entwickeln.
In zwei Auftritten, die sie dringend für die Darstellerpreise hier in Cannes empfehlen, lassen sich Hüller und Simonischek bedingungslos auf ihre Rollen ein und verleihen ihnen eine wilde Lebendigkeit, die berührt. Wie ein Schutzengel, nur eben einer mit schlechten Zähnen und hässlicher Perücke, begleitet Toni Erdmann Ines ein stückweit durch ihr Leben. Es sind unvergessliche Momente, für sie und für das Publikum. Wie gesagt: Toni Erdmann, den hätte man auch gern an seiner Seite.