
Carlos-Darsteller Edgar Ramírez Terrorkönig mit Welpenblick
Es würde seine Tücken haben, einen der brutalsten Verbrecher aller Zeiten zu spielen, die Hauptrolle in einem fünfeinhalbstündigen Epos über Carlos, den Schakal. Das ahnte Edgar Ramírez. Er wusste, dass ihn die Dreharbeiten fertigmachen könnten, knapp sechs Monate am Stück, an allen möglichen Orten auf der Welt, in London, Paris, Budapest, Beirut, o Gott, sogar in Halle (Saale). Dass er sich in der Zeit knapp 20 zusätzliche Kilos anfressen müsste, um zu dem schmierigen Fettwanst zu werden, der Carlos in den späten Jahren war, vor seiner Verhaftung 1994.
Dass er deswegen selbst in einem libanesischen Knast landen würde, damit hatte er nicht gerechnet.
"Es waren nur sechs Stunden, man hat mich nicht misshandelt, und eigentlich wurde ich auch nur in Gewahrsam genommen", sagt Ramírez, 33, als glücklicher, freier Mann beim Mittagessen in einem Londoner Hotelrestaurant. "Aber für einen kurzen Moment habe ich mich da doch gefragt, ob es das alles wert ist."
Auf dem Weg zu einem Drehort außerhalb Beiruts waren er und sein Fahrer in eine Straßenkontrolle geraten, Ramírez hatte seine Brieftasche samt Ausweis im Hotel vergessen, der libanesische Fahrer hatte den Wagen von einem Bekannten geliehen und keine Papiere dafür. Es war die Zeit kurz vor den Parlamentswahlen, und die Stimmung im Libanon war angespannt. Ein Ausländer offensichtlich, der ohne feststellbare Identität in einem unbekannten Fahrzeug da verdächtig wirken kann. "Man hat es mir nie gesagt, aber ich glaube, die haben mich für einen Mossad-Agenten gehalten", sagt Ramírez.
Von Publikum und Kritikern in Cannes bejubelt
Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes, erlebte "Carlos - der Schakal" vom französischen Regisseur Olivier Assayas außerhalb des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere; seitdem weiß Ramírez, dass sich der Aufwand auf jeden Fall gelohnt hat. Der Film wurde von Publikum und Kritikern als das Ereignis des Festivals bejubelt. So auch die Leistung von Edgar Ramírez: "Variety" sah in dem Film "Ramírez's star-making show", einen "hypnotischen Auftritt" bescheinigte "Empire".

Nicht von ungefähr. Carlos ist der Mann, der sagt, er sei verantwortlich für den Tod von 1500 Menschen; der erst Vollstrecker der palästinensischen Terrororganisation PFLP war und dann seines eigenen Netzwerks; der im Dezember 1975 mit der Geiselnahme der Opec-Ölminister zu einer Art Popstar des Schreckens wurde; der Frankreich mit Bombenanschlägen überzog, nachdem seine deutsche Ehefrau und Komplizin Magdalena Kopp (im Film gespielt von Nora von Waldstätten) in Paris verhaftet wurde; der seit 1994 im Gefängnis sitzt und auch als verurteilter Mörder immer noch an seine baldige Freilassung glaubt. Ramírez macht aus dem diffusen Mythos einen Menschen, eine Naturgewalt, die einen 330 Minuten lang in seinen Bann zieht, in allen Facetten. Er ist der junge, athletische Kämpfer, der vom venezolanischen Idealisten zum weltberühmten Terrorkönig wird und später zum aufgeschwemmten Verlierer; Narziss, Manipulator, Mörder, Frauenfeind, Geiselnehmer, Sadist, Verführer, Versager, Charismatiker, Fettqualle, Geheimdienstmarionette. Ramírez vereint alles in einem furchterregenden, gleichzeitig lächerlichen Geschöpf.
Wenn Schwerverbrecher zu Kinohelden werden
Es wäre eine Oscar-Nominierung wert, wenn der Film nicht als dreiteilige TV-Serie konzipiert gewesen wäre und somit nicht von der Academy berücksichtigt werden darf. Es konnte auch niemand erwarten, dass man sich in diesem Fall gern für fünfeinhalb Stunden in ein Kino sperren lässt. Die Laufzeit mag abschrecken, aber am Ende erscheint jede 100-Minuten-Produktion aus Hollywood länger (für Angsthasen bietet der Verleih in Deutschland auch eine etwas gehetzte dreistündige Version an).
Natürlich sieht Edgar Ramírez mit seinen Welpenaugen und den dahingemeißelten Wangenknochen viel zu gut aus, um den schmierhaarigen Quadratkopf Carlos zu spielen, der einst von den Fahndungsplakaten starrte. Und so kann man auch Ramírez vorwerfen, er sei als Terrorist zu sexy, wie es häufig die Gefahr ist, wenn Schwerverbrecher zu Kinohelden werden.
Das musste sich auch schon der französische Schauspieler Vincent Cassel anhören, als er in Jean-François Richets "Public Enemy No. 1" Frankreichs Staatsfeind Jacques Mesrine verkörperte; ebenso Moritz Bleibtreu und Martina Gedeck als Titelfiguren in Uli Edels "Der Baader-Meinhof-Komplex". Sie sind schöner als ihre Originale, und egal wie brutal sie rüberkommen wollen, auf der Leinwand sehen sie mit ihren Sonnenbrillen und den Retro-siebziger-Jahre-Klamotten dann doch ziemlich cool aus.
Das ist gerade am Anfang von "Carlos - Der Schakal" auch so, und Ramírez ist sich dessen bewusst. "Dieses Bild von Carlos als eine Art Rockstar ist nicht die Wirklichkeit, aber es ist Teil des Mythos", sagt er. "So wie das spätere Bild des abgehalfterten Fettkloßes. Wirklichkeit ist in diesem Fall eine relative Sache, denn dieser Charakter Carlos ist doch eine Erfindung - von Ilich Ramírez Sánchez, von den Medien, den radikalen Gruppen, den Geheimdiensten. Wir wollten nie eine Biografie machen. Der Film ist Fiktion, die sich so nah wie möglich an die Fakten hält."
Ramírez wählt seine Worte immer mit Bedacht, das kann er gut, früher wollte er mal Diplomat werden. Er ist an diesem frühen Nachmittag in London eigentlich noch übermüdet vom Jetlag - weniger als 48 Stunden zuvor war er noch in Los Angeles -, aber in seinen Antworten ist er wach und eloquent. In welcher Sprache auch immer. Als Venezolaner spricht er besonders gern Spanisch, aber Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch beherrscht er auch perfekt, Letzteres wahlweise auch mit österreichischem Akzent. Als Militärattaché hat sein Vater die vierköpfige Familie an die verschiedensten Orte der Welt geführt, 1992 kam der Clan für eine Weile nach Graz. "Dort liegen vielleicht meine Wurzeln als Schauspieler", sagt er. "In der Grazer Schule war ich immerhin das erste Mal in einer Theatergruppe."
Ramírez' Karrierestart als Schauspieler
An eine Darsteller-Karriere habe er aber lange nicht gedacht, sagt er. In Caracas hat er Journalismus studiert, machte einen guten Abschluss und wurde später Leiter einer venezolanischen NGO, die jungen Menschen das Wahlrecht nahebringen wollte, "um ihnen demokratische Werte zu vermitteln", wie Ramírez sagt. Während des Studiums spielte er "so zum Spaß" in einem Kurzfilm eines Freundes mit, der dann auf einem Studentenfilmfestival an seiner Uni (welches er selbst mitorganisiert hatte) gezeigt wurde und einem Professor und Drehbuchautor aus Mexiko gefiel, der zufällig gerade an einem langen Spielfilm arbeitete, dem noch eine männliche Hauptrolle fehlte. Er solle unbedingt den Regisseur treffen, meinte jener Guillermo Arriaga zu Ramírez, das könne der Beginn von etwas Großem sein.
Ramírez lehnte ab. Zu viel zu tun. Die Abschlussarbeit stand an, dann musste er für seinen Master ja nach Georgetown, und für dieses Konflikt-Interventionsseminar in Oslo hatte er sich auch schon angemeldet. Der Film müsse ohne ihn stattfinden, und er sei ja ohnehin kein richtiger Schauspieler.
Als er Arriaga im Jahr 2000 wieder traf, kam der gerade aus Cannes zurück, mit zwei Preisen für ebendiesen Film, "Amores Perros", von Alejandro González Iñárritu. Statt Edgar Ramírez wurde erst mal Gael García Bernal zum Star. "Da fing ich dann doch an nachzudenken." Also erzählte er seinen überraschend verständnisvollen Eltern, dass es mit der möglichen Diplomatenlaufbahn nun vorbei sei und er Schauspieler werde. "Mein Vater war sicher, dass ich schon wüsste, was ich tue. Natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung."
Bist du für Chávez, oder bist du gegen ihn?
Es ließ sich dann aber ganz gut an. Er spielte in zwei venezolanischen Filmen mit, von denen einer, "Punto y Raya" von Elia Schneider, auf einem Festival in Los Angeles gezeigt wurde, wo Regisseur Tony Scott gerade nach Verstärkung für Keira Knightley in dem Kopfgeldjägerfilm "Domino" suchte. Ramírez bekam die Rolle. "Domino" floppte entsetzlich, aber er hatte sich in den Casting-Kreisen Hollywoods bekanntgemacht. Es folgten mittelgroße Auftritte im letzten Teil der "Bourne"-Trilogie, dem Thriller "8 Blickwinkel" (2008) und dem ersten Teil von Steven Soderberghs Revoluzzer-Porträt "Ché" (2009). Eine entspannte Karriere, ohne groß aufzufallen.
Damit ist es vorbei. Wer "Carlos - Der Schakal" gesehen hat, vergisst Edgar Ramírez nicht mehr. Sein Hauptwohnsitz ist immer noch , doch es wird immer anstrengender zwischen Caracas, Los Angeles, London und Paris herumzufliegen, so dass er sich auf Dauer vielleicht doch ein zentraleres Hauptquartier zulegen muss. Aber so weit ist er noch nicht. "Ich liebe Venezuela und fühle mich dort sehr wohl", sagt er. "Das ist meine Heimat, und die möchte ich nicht einfach so verlassen. Zur politischen Lage im Land und zum umstrittenen Präsidenten Hugo Chávez möchte er sich aber nicht direkt äußern. "Das Problem in Venezuela ist ja, dass sich zwei tiefverfeindete Lager gegenüberstehen", sagt er. "Es geht immer nur darum: ,Bist du für Chávez, oder bist du gegen ihn?' Das ist so anstrengend." Sein Ansatz als Künstler sei es, vermitteln zu wollen und nicht zu teilen, als "Instrument der Versöhnung und Begegnung". Radikale Positionen hätten immer nur ins Nichts geführt, er wolle nicht weiter polarisieren. "Ich versuche alle einzuschließen. Es wäre doch eine schöne Sache, wenn sich die Venezolaner auf mich als Schauspieler einigen können, wenn es schon sonst nicht geht."
Die menschliche Geschichte eines rätselhaften Charakters
Allerdings muss sich noch zeigen, wie seine Landsleute seine Darstellung des Carlos aufnehmen, denn in Venezuela wurde der Film noch nicht gezeigt. Carlos alias stammt selbst aus Venezuela und hat dort womöglich noch mehr Bewunderer als anderswo, ein erklärter von ihnen ist Präsident Chávez. Dass Ramírez ihn vielmehr als größenwahnsinnigen Söldner zeigt und nicht als den idealistischen Kämpfer für die Revolution, dürfte nicht allen im Land gefallen.
Ramírez sorgt das wenig. "Carlos war für mich immer nur eine mythische und verrückte Figur, die irgendwann an weit entfernten Orten Bomben gelegt hatte, und ich glaube, so geht es vielen meiner Landsleute. Außerdem ist der Film kein politisches Statement. Politik ist Teil der Story, aber wir erzählen eine menschliche Geschichte über einen rätselhaften Charakter. Und das ziemlich unterhaltsam. Am Ende geht es doch vor allem darum."
Statt sich über so etwas Gedanken zu machen, sondiert Ramírez seine nächsten Projekte, über die er natürlich noch nicht reden möchte. Man hört aber so einiges. Wie es heißt, hat er aber schon das Angebot für den nächsten heiligen Schwerverbrecher: Kolumbiens Drogenkaiser Pablo Escobar.