Kinomeisterwerk "Carol" Die größte Liebesgeschichte des Jahres

Kinomeisterwerk "Carol": Die größte Liebesgeschichte des Jahres
Foto: DCMCate Blanchetts Carol hat die Augen zu raubtierhaften Schlitzen verengt. Sie hat fest im Blick, was sie von dieser Welt will, und das ist die junge Verkäuferin Therese. Rooney Maras Therese wiederum hat die Augen weit aufgerissen. Sie fängt erst an, die Welt um sich herum zu erfassen und eine Beziehung mit der älteren Carol in Betracht zu ziehen. Doch noch treffen sich ihre Blicke nicht.
Es ist kein Zufall, dass bereits das Filmplakat zu "Carol" die zwei zentralen Figuren des Films, ihre verschiedenen Ausgangssituationen und Antriebskräfte auf den Punkt bringt. Jedes Bild in Todd Haynes' Film ist so meisterlich komponiert, dass es alle Gefahren und Geheimnisse, aber auch alles Glück und Begehren, das die Geschichte von Carol und Therese beinhaltet, in sich trägt. Man möchte während der 118 Minuten Laufzeit kaum blinzeln, läuft man doch Gefahr, eines dieser Bilder zu verpassen.

"Carol": Begehrende Blicke, beredtes Schweigen
Ein scheinbar beiläufig abgelegtes Paar Handschuhe bietet Therese einen Vorwand, um Carol zu kontaktieren. Vor wenigen Momenten erst hat Carol in Pelzmantel und exquisitem Make-up die Spielzeugabteilung, in der Therese arbeitet, durchschritten. Kurz lässt sie sich von der zurückhaltenden Frau, die nach den Vorgaben ihres Arbeitgebers eine Nikolausmütze trägt, beraten. Dann kauft sie für ihre kleine Tochter eine elektrische Eisenbahn, hinterlässt für die Anlieferung ihre Adresse in einem New Yorker Vorort - und ihr Paar Handschuhe. Therese versteht die Handschuhe als die Einladung, als die sie womöglich von Carol von vornherein gemeint war: zu ihr nach Hause. Und dann noch ein wenig näher.
Zunächst nur unter Pseudonym
1952 veröffentlichte Patricia Highsmith "The Price of Salt", die Romanvorlage zu "Carol", allerdings unter dem Pseudonym Claire Morgan, da die lesbische Liebesgeschichte autobiografische Züge trug. Erst 1990, als der Roman wegen seines ungewöhnlichen Endes längst zu einem Meilenstein in der Geschichte der homosexuellen Literatur geworden war, bekannte sich Highsmith zu ihrer Autorinnenschaft und veröffentlichte den Roman unter eigenen Namen erstmalig als "Carol".
In der Filmversion ist der neue Titel ein wenig irreführend, denn Drehbuchautorin Phyllis Nagy hat einen Perspektivwechsel eingeführt: Wir blicken nicht allein mehr mit den Augen von Therese begehrlich auf Carol, vielmehr gleitet die Kamera zwischen ihren Perspektiven hin und her. Lange Zeit laufen so ihre Geschichten parallel. Hier Therese, die ihren Freund Richard (Jake Lacy) immer mehr auf Abstand hält und langsam als Fotografin Tritt fasst. Dort Carol, die sich mit ihrem Ehemann Harge (Kyle Chandler) eine zunehmend hässliche Scheidungsschlacht liefert.
Wenn die beiden Frauen schließlich wieder aufeinandertreffen, sind ihre Zusammenkünfte durch das Wissen des Publikums um die widrigen Umstände ihrer Liebe noch einmal stärker aufgeladen - und werden durch die sensationelle Chemie zwischen Mara und Blanchett schließlich ganz zur stillen Explosion gebracht.
Bei den Filmfestspielen von Cannes, wo "Carol" im Mai 2015 seine umjubelte Premiere feierte, wurde Rooney Mara als beste Darstellerin ausgezeichnet - als wollte die Jury unter Vorsitz der Coen-Brüder betonen, was für eine Leistung es ist, mit Blanchett, der besten Schauspielerin ihrer Generation, gleichzuziehen. Bei den Golden Globes wiederum sind kürzlich beide Frauen als beste Hauptdarstellerin nominiert worden, die Oscars werden wohl Blanchett als beste Haupt- und Mara als beste Nebendarstellerin einteilen und darüber hinaus Nagy, Haynes und Kameramann Edward Lachman mit Nominierungen bedenken.
Anders sehen, anders verstehen
Fast meint man, ein Déjà-vu zu haben: Zuletzt war Haynes 2003 für "Dem Himmel so fern" für den Oscar nominiert, ein virtuoses Melodram im Stile Douglas Sirks. Julianne Moore spielte darin eine Hausfrau im Connecticut der Fünfzigerjahre, deren Ehemann gegen seine Homosexualität ankämpfte, während sie sich zu ihrem schwarzen Gärtner hingezogen fühlte. Diesen Film und Haynes' preisgekrönte Miniserie "Mildred Pierce" mit "Carol" zu vergleichen liegt nah, teilen sie doch das Setting in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die exquisite Ausstattung, die herausragende Besetzung und das Sujet weibliche Emanzipation.
Doch wo Haynes zuvor durch das Stilmittel des Pastiche die Diskrepanz zwischen ästhetischer und erzählerischer Konvention hervorhob - die grellen Farbkontraste in "Dem Himmel so fern" waren zeitgetreu, gleichwohl hätte im Hollywood des Hays Code nie so offen von gleich zwei verbotenen Lieben erzählt werden können -, strebt er hier erstmalig Realismus an.
Gleichgeschlechtliche Liebe und Verbrechen, das andere große Thema Highsmiths', fallen zur Zeit von "Carol" noch in eins. Verschwörerische Heimlichkeit ist die Folge, und eben dieser spürt Haynes mit großer Sorgfalt und sogar so etwas wie Sehnsucht nach. In den lautlosen Botschaften, die Carol und Therese austauschen, entdeckt er die sanfte Subversion gesellschaftlicher Konventionen. Er kann nicht umhin, darin auch Momente von Ermächtigung zu finden - zeichnet sich hier doch das Geflecht queerer Subkulturen ab.
Verdeutlicht werden die Mechanismen des anders Sehen und anders Verstehen mit einer filmischen Klammer. In der ersten Szene werden wir Zeuge eines scheinbar beiläufigen Treffens von Carol und Therese. Wenn sich die Szene später wiederholt, sehen wir plötzlich so viel mehr: Wir erkennen in ihr den Wendepunkt in einer großen Liebesgeschichte - der größten dieses Filmjahres.
Im Video: Der Trailer zu "Carol"
GB/USA 2015
Drehbuch: Phyllis Nagy nach der Vorlage von Patricia Highsmith
Regie: Todd Haynes
Darsteller: Cate Blanchett, Rooney Mara, Kyle Chandler, Sarah Paulson, Carrie Brownstein, Jake Lacy, Cory Michael Smith, John Magaro
Produktion: The Weinstein Company, Number 9 Films Ltd., Killer Films
Verleih: DCM Filmdistribution
Länge: 118 Minuten
Start: 17. Dezember 2015
Offizielle Website: Carol