"Das Experiment" Eskalation im Psycho-Knast

Es beginnt als wissenschaftlicher Versuch. In "Das Experiment" begeben sich 20 Männer für psychologische Studien in ein Scheingefängnis. Doch die Simulation gerät völlig außer Kontrolle, und die Gewalt eskaliert.
Von Harriet Dreier

"Sollten Sie als Gefangener an diesem Experiment teilnehmen, bedeutet das für Sie den Verzicht auf Privatsphäre und bürgerliche Grundrechte", warnt der Leiter des Experiments, Professor Thon (Edgar Selge) die Bewerber. Doch die 20 Freiwilligen, die sich gegen ein Honorar von 4000 Mark einsperren lassen wollen, sind nicht abzuschrecken. Niemand von ihnen rechnet damit, dass sich die simulierte Haft in einem ständig überwachten Zellentrakt nach wenigen Tagen in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Der Psychothriller "Das Experiment" von Regisseur Oliver Hirschbiegel basiert auf dem Roman "Black Box" von Mario Giordano, der ein 1971 tatsächlich an der Stanford University in Palo Alto durchgeführtes Gefängnisexperiment als Drehbuchvorlage aufgreift.

Der Film stellt die amerikanische Versuchsanordnung nach. Eine Gruppe von 20 Männern (in Stanford waren es 24) wird per Zufall in "Gefangene" und "Wärter" aufgeteilt. Vierzehn Tage lang sollen die normalen, rechtschaffenen Bürger dieses Rollenspiel durchhalten. Das Scheingefängnis besteht aus einem umgebauten Flur im Unikeller. Die "Gefangenen" müssen auf wesentliche Grundrechte verzichten: Statt Kleidung bekommen sie nummerierte Hemdkleider ohne Unterwäsche und werden nach gründlicher Desinfektion zu dritt in eine enge Zelle gepresst. Sie rebellieren gegen Demütigung und Schikane, doch die "Wärter" sorgen schon in der ersten Nacht brutal für Ordnung. Aufmüpfigen Insassen nehmen sie die Betten weg, entkleiden sie und spritzen sie mit Feuerlöschern ab. In Stanford wurde das Experiment wegen steigender Aggressivität bei den "Wärtern" und wachsender Apathie auf Seiten der "Gefangenen" nach sieben Tagen abgebrochen. Soweit die Realität - Drehbuchvorlage und Film drehen die Schraube weiter aus Gewalt, Macht und Hörigkeit weiter - sie lassen die Versuchspersonen bis zum Äußersten gehen.

Hauptfigur in "Das Experiment" ist Taxifahrer und Ex-Journalist Tarek Fahd (Moritz Bleibtreu), der eine brisante Story wittert und sich undercover auf das Knastspiel einlässt. Mit einer Geheimkamera in seiner Brille filmt er den grausamen Gefängnisalltag im grellen Neonlicht.

Was als Spiel beginnt, wird schon nach zwei Tagen brutaler Ernst: Die "Strafvollzugsbeamten" wie der Flughafenangestellte Berus (Justus von Dohnànyi) oder der Elvis-Imitator Eckert (Timo Dierkes) kosten ihre Rolle als Knastaufseher gnadenlos aus. Das neue Machtgefühl lässt sie jegliches Verhältnis zur Realität verlieren, bis sie ihren Instinkten freien Lauf lassen. Tarek muss nackt das Klo säubern, anschließend rasieren ihm die "Wärter" den Kopf kahl und urinieren auf ihn. Trotz immer sadistischeren Spielchen und ausufernden Erniedrigungen der "Gefangenen" lassen die Wissenschaftler, blind vor Ehrgeiz, das Experiment weitergehen - bis die Simulation aus dem Ruder läuft. Die beklemmende Atmosphäre erreicht ihren Höhepunkt, als die "Wärter" die Grenzen des Experiments sprengen, die Wissenschaftler Professor Dr. Klaus Thon (Edgar Selge) und seine Assistentin Dr. Jutta Grimm (Andrea Sawatzki) angreifen und auch vor tödlicher Gewalt nicht mehr zurückschrecken.

Ein paar Schwachpunkte hat "Das Experiment" dennoch: Anfangs ist Tarek noch ein blasse Klischeefigur und die Inszenierung des Films ein wenig mager. Bleibtreus ausgedehnte Liebesszenen mit seiner neuen Flamme (Maren Eggert) machen erst Sinn, als man begreift, dass er sich in der Isolationshaft an diese Tagträume klammert, um durchzuhalten. Ansonsten ist Hirschbiegels Kinodebüt jedoch ein verstörender Psychothriller über menschliches Rollenverhalten in sozialer Isolation und den verschwimmenden Grenzen zwischen notwendiger Autorität und willkürlicher Erniedrigung. Auch wenn die Situation von vornherein auf einen Showdown zusteuert - vorhersehbar ist Hirschbiegels Kinodebüt nicht. Das Skript, das mit Realität und Fiktion spielt, sowie die herausragenden schauspielerischen Leistungen, dazu harte, schnelle Schnitte und eine gelungene Kameraführung, beweisen, dass der deutsche Film durchaus anspruchsvolles Unterhaltungskino liefern kann.

Dafür gab es bei der Filmvorstellung am Mittwoch am Potsdamer Platz in Berlin starken Applaus. Zur Premiere erschienen mehr deutsche Schauspieler als zur Berlinale: Christiane Paul, Maria Schrader, Suzanne von Borsody, Benno Führmann und Richy Müller stießen auf Oliver Hirschbiegels Erfolg an.

"Das Experiment". Deutschland 2001. Regie: Oliver Hirschbiegel; Drehbuch: Mario Giordano, Christoph Darnstädt; Darsteller: Moritz Bleibtreu, Justus von Dohnànyi, Maren Eggert, Edgar Selge, Christian Berkel;Verleih: Senator; Länge: 120 Min.; Start: 08. März 2001

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