"Das Wunder von Bern" Hollywood in Essen

Die deutschen Fußball-Frauen sind Weltmeister, Schumi auch: Es hätte wohl keinen besseren Zeitpunkt geben können, um den Fußball-Mythos von 1954 zu verfilmen. Es geht ums große Gefühl und um den Glauben - seht her, alles wird gut, wie immer. Ein unterhaltsamer, liebenswürdiger Film mit famosen Darstellern.
Von Oliver Hüttmann

Deutschland braucht ein Wunder. Eines wie 1954 bei der Fußballweltmeisterschaft in Bern, als erst die deutsche Nationalmannschaft gegen Ungarn im Endspiel mit 3:2 siegte und kurz darauf auch das Bruttosozialprodukt stieg, also das Wirtschaftswunder begann. Eine Legende, die seither symbiotisch und abergläubisch den Kick als Kick für mehr Selbstbewusstsein und Arbeitsplätze in der Bundesrepublik verknüpft. Immer wieder pilgern deutsche Politiker zu den Entscheidungsspielen wie andere nach Lourdes, als wollten sie um ein weiteres Wunder bitten, das sie vom mühseligen Tagesgeschäft erlöst. Bei der letzten WM in Asien orakelten so genannte Experten geradezu bizarr in der Boulevardpresse sogar darüber, wie viel Prozent Wachstum uns selbst eine Vizeweltmeisterschaft noch bringen könnte.

Nun hat Sönke Wortmann einen Film über "Das Wunder von Bern" gedreht, und zur Premiere erschien der Bundeskanzler. Bei "Der Schuh des Manitu" ließ sich Gerhard Schröder nicht im Kino blicken. Dabei hat Bullys Klamotte mit über zehn Millionen Zuschauern zumindest der Filmwirtschaft faktisch mehr geholfen, als es Wortmanns Epos jetzt erreichen könnte. Aber hier geht es um das Gefühl, den Glauben. Seht her, alles wird gut, wie immer.

Wortmann, der selbst im Ruhrpott aufwuchs und Fußball spielte, hat sich mit "Das Wunder von Bern" einen Jugendtraum erfüllt. Erst jetzt aber, so seine Begründung, habe es ihm die Digitaltechnik ermöglicht, die Spielszenen glaubhaft und im vollen Stadion kostengünstig nachstellen zu können. Doch einen besseren Zeitpunkt, ein Jahr vor dem 50. Jubiläum, hätte das Schicksal die Zeitgeschichte nicht inszenieren können. Schumi zum sechsten Mal Formel-1-Weltmeister. Deutschlands Fußball-Frauen auch Weltmeister. "Wir haben wieder Helden", titelte die "Bild"-Zeitung - außerdem den Oscar für Caroline Links "Nirgendwo in Afrika" und Katja Riemann, in Cannes ausgezeichnet worden als beste Hauptdarstellerin, nachdem der deutsche Film im Ausland so lange verschmäht worden ist. Sind wir wer?

Ein kleines Wunder hatte Wortmann neben anderen jungen Kollegen schon in den 90er Jahren vollbracht. Seine Beziehungskomödien wie "Allein unter Frauen", "Der bewegte Mann" oder "Das Superweib" spielten seit der bleiernen Ära der Autorenfilmer wieder Geld in die Kassen des deutschen Films. Von vielen Kritikern, die er als missgünstig und eitel empfand, bezog er dafür jedoch Häme. Wortmann fühlt sich den Prinzipien Hollywoods verpflichtet. Nachdem er dort ein Projekt mit dem wohlfeilen Titel "Der Himmel über Hollywood" realisiert hat und künstlerisch dennoch scheiterte, ist er in die Heimat zurückgekehrt.

Nahe Hollywood bleibt er allerdings auch mit "Das Wunder von Bern " noch, auch wenn der Film mit dem Himmel über Essen beginnt. Der elfjährige Matthias (Louis Klamroth) wartet mit Freunden auf die Ankunft einer Brieftaube mit dem Ergebnis vom Auswärtsspiel ihrer Heimmannschaft. Rot-Weiß Essen hat verloren. Diese Sequenz und die stimmungsvollen Farben geben den Ton aus Erwartungen und Enttäuschungen vor, der sich durch den ganzen Film zieht und in allseits großen Versöhnungen endet. Matthias Vater gilt seit dem Krieg als vermisst. Mutter Christa (Johanna Gastdorf) bringt den Jungen und seine älteren Geschwister mit einer Kneipe durch. Zu Matthias väterlichem Freund ist Helmut Rahn (Sascha Göpel) geworden, Essens eigenwilliger Stürmer, dem er immer die Tasche zum Training trägt. "Die wichtigen Tore schieße ich nur, wenn du dabei bist", sagt Rahn zu ihm.

Dann erhält Christa einen Brief. Ihr Mann Richard Lubanski (Peter Lohmeyer) lebt. Bald wird er aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückkehren. Doch ihre Hoffnung, dann werde man endlich eine richtige Familie sein, bekommt schon bei der Ankunft am Bahnhof einen Riss. Richard hält nach zehn Jahren Abwesenheit die Tochter Ingrid (Birthe Wolter) für seine Frau. Er will die Kneipe verkaufen und wieder im Bergwerk arbeiten, bekommt unter Tage jedoch Panikanfälle. Er hält sich nun für unnütz, ist verschlossen und jähzornig und will Matthias zu einem richtigen deutschen Jungen erziehen. Der Bub entzieht sich, deshalb verbietet er ihm den Umgang mit Rahn. Auch zur WM in Bern darf er nicht mitreisen. Dabei kann der Rahn ohne ihn doch nicht den entscheidenden Treffer erzielen.

Dieses sentimentale Muster ist leicht durchschaubar, aber den entscheidenden emotionalen Effekt trifft Wortmann dennoch sicher. Und wenn der Kummerkitsch zu heftig zu werden droht, leitet er zur launigen Parallelhandlung mit einem jungen, ehrgeizigen Fußballreporter Paul Ackermann (Lucas Gregorowicz) und seiner reichen, forschen Frau Annette (Katharina Wackernagel) über, die intuitiv bald seinem Fachwissen überlegen ist. Die starken Frauen der Nachkriegszeit stellen in "Das Wunder von Bern" das schönste, ja zentrale Motiv dar. In der Nacht vor dem Viertelfinale gegen Jugoslawien streift Sepp Herberger (Peter Franke) durch die Hotelhalle und kommt mit einer Putzfrau ins Gespräch. Sie tauschen Binsenweisheiten aus. "Der Ball ist rund, und ein Spiel dauert 90 Minuten", sagt die Putzfrau dann. Am Tag schießt Rahn, der zuvor nur auf der Bank saß, ein Tor.

Die Anekdote hat Wortmann erfunden. Aber so macht er aus dem Mythos und Herbergers Aphorismen, die selbst Fußballfans nicht mehr hören wollen, einige geschickte und trocken vorgetragene Pointen. Bis zum Finale erfährt man von der WM nur im Radio oder einem der ersten Fernseher, was dramaturgisch perfekt funktioniert, um alle Charaktere symbolisch für die deutsche Bevölkerung von damals im Schlussakt zu bündeln. Und tatsächlich meisterhaft darf man die Spielzüge und Torszenen nennen, gedreht nach allen Regeln der "ran"-Kunst.



"Das Wunder von Bern" ist kein makelloser Film. Zuweilen strapaziert Wortmann das Pathos etwas arg. Wenn er seinen Bildern nicht traut, will er auf Nummer sicher gehen und schießt übers Ziel hinaus. Doch es ist ein unterhaltsamer, liebevoller, würdiger Film mit famosen Darstellern - Wortmanns beste Regie, wie er selbst unermüdlich betont. Mehr könne er nicht schaffen, sagte er kürzlich. Dass er danach nie mehr einen Film drehen wolle, dementierte er allerdings. Da ist Sönke Wortmann ein bisschen wie Gerhard Schröder, der ja ständig mit Rücktritt droht. Es gibt einige Leute in diesem Land, die würden das als erste Voraussetzung für ein neues Wunder deuten.


"Das Wunder von Bern"
Deutschland 2003. Regie: Sönke Wortmann. Drehbuch: Sönke Wortmann, Rochus Hahn. Darsteller: Louis Klamroth, Peter Lohmeyer, Lucas Gregorowicz, Katharina Wackernagel, Johanna Gastdorf, Peter Franke, Sascha Göpel, Knut Hartwig, Birthe Wolter, Mirko Lang. Produktion: Little Shark Entertainment, Senator Film. Verleih: Senator Film. Länge: 118 Minuten. Start: 16. Oktober 2003

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