Gefeierter Regisseur Kirill Serebrennikov "Du kannst alles haben - außer Russland ohne Putin"

Die schwarze Komödie "Der die Zeichen liest" zeigt, wie schnell sich Jugendliche in den Fundamentalismus hineinsteigern - und rechnet dabei mit Staat und Kirche in Russland ab.
Gefeierter Regisseur Kirill Serebrennikov: "Du kannst alles haben - außer Russland ohne Putin"

Gefeierter Regisseur Kirill Serebrennikov: "Du kannst alles haben - außer Russland ohne Putin"

Foto: Neue Visionen

Müssen die Mädchen im Schwimmunterricht wirklich so knappe Bikinis tragen? Es sind scheinbar unbedeutende Fragen, die Venya (Pyotr Skvortsov) an seine Lehrer hat. Angekleidet und mit einer Bibel in der Hand sitzt er am Rand des Schwimmbeckens und verweigert sich. Dem erotisch aufgeladenen Treiben seiner Mitschülerinnen und der Toleranz, die die Lehrer gegenüber dem Treiben walten lassen.

Diese Toleranz ist allerdings brüchig, denn sie erwächst nicht aus einem gefestigten Wertesystem, sondern ist Ausdruck von Unbedachtheit. Venyas Fragen überfordern seine Lehrer, und auf der Suche nach Orientierung wenden die sich an die Instanz, die in der Schule mindestens so viel Einfluss wie die Direktorin hat: die orthodoxe Kirche.

Beim nächsten Schwimmunterricht tragen die Mädchen Badeanzüge.

In Deutschland ist Kirill Serebrennikov bekannt als Opernregisseur, in Russland als Theaterregisseur, seit Cannes 2016 weltweit vor allem als Filmregisseur. Seine siebte Kinoarbeit Film "Der die Zeichen liest" hatte ihre umjubelte Premiere auf dem Festival und kommt nun - als erster seiner Filme - auch in Deutschland in die Kinos. Es handelt sich dabei um eine schwarze Komödie über christliche Radikalisierung. Allerdings eine Komödie, die einem Angst einjagt. Weil sie zeigt, wie umstandslos sich ein Jugendlicher in den Fundamentalismus hineinsteigern und wie leicht es ihm eine vermeintlich liberale Gesellschaft dabei machen kann.

Stärker könnte eine Geschichte kaum auf den Lebensrealitäten Russlands fußen, würde man meinen. Doch bei "Der die Zeichen liest" handelt es sich um die Adaption eines deutschen Theaterstücks: "Märtyrer" von Marius von Mayenburg, Hausautor an der Berliner Schaubühne. Wie tiefgreifend waren die Veränderungen, die Serebrennikov vornehmen musste, damit das Stück auf russische Verhältnisse passte?

Beim Interview in Berlin winkt der 47-Jährige ab: Inhaltlich hätte es nicht viel zu ändern gegeben, statt katholischer Kirche hätte man nur die orthodoxe einsetzen müssen. Viel größer wäre die Herausforderung gewesen, das Stück, das er selbst schon in Moskau inszeniert hat, in einen Film umzuwandeln. "Eine fürchterliche Sache", so Serebrennikov. "Es ist, als müsste man ganz andere Muskeln aufbauen, denn alles, was du fürs Theater geschaffen hast, funktioniert im Film nicht."

Zur Person
Foto: Valerio Pennicino/ Getty Images for Lancia

Kirill Serebrennikov, geboren 1969 in Rostow am Don, studierte Physik, bevor er zum Theater kam. 1994 debütierte er als Theaterregisseur, 1998 mit dem Thriller "Razdetyye" als Filmregisseur. Seine Theaterinszenierungen waren u.a. zu den Wiener Festwochen und nach Avignon eingeladen. Seit 2012 ist er Künstlerischer Leiter des Gogol Centers in Moskau. An der Komischen Oper in Berlin inszeniert er in dieser Spielzeit "Der Barbier von Sevilla", an der Oper Stuttgart "Salome".

Vollständig neue Muskeln lässt Serebrennikov allerdings nicht spielen: Der Film besteht aus etlichen "set pieces", die in ihrer Länge und ihrem dramaturgischen Aufbau deutlich ans Theater erinnern. Ein Manko ist das aber nicht, denn in "Der die Zeichen liest" geht es um das Geschriebene und die Macht der Deutung, wie auf Worte Gewalt folgen kann. Sprache braucht deshalb allen Raum und alle Zeit, die sie kriegen kann.

Und Serebrennikov gesteht sie ihr auf allen Ebenen zu: In die sinnlich-intensiven Bilder von Kameramann Wladislaw Opelyants reißt er immer wieder Löcher für donnernde Bibelzitate: "Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen." "Lieg nicht beim Knaben wie beim Weibe, denn es ist ein Gräuel." "Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!" - dazu werden die exakten Kapitel- und Versnummer eingeblendet. "Das Publikum muss wissen, dass diese Stellen authentisch sind", sagt Serebrennikov. "Sie stammen nicht aus meiner Fantasie."

Nackt im Bio-Unterricht

Was wie Munition für die Abwehr von Kritik seitens der Kirche wirkt, legt gleichzeitig eine falsche Fährte aus: Dass man Venyas Fundamentalismus mit Quellennachweisen und wissenschaftlicher Stichhaltigkeit beikommen könnte. Diesen Versuch macht die junge Biologielehrerin Elena (Viktoria Isakova). Als liberale Frau, die eine Beziehung mit einem Kollegen hat und zudem Jüdin ist, könnte sie Venya kaum mehr Angriffsfläche bieten. Entweder setzt er ihr mit Bibelzitaten zu - oder zieht sich, als sie Sexualkunde unterrichten will, nackt aus, um den Unterricht zu sprengen. Natürlich mit Erfolg.

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"Der die Zeichen liest": Kreuzigung ist auch eine Option

Foto: Neue Visionen

Zur Gegenwehr stürzt sich Elena ebenfalls in die Bibellektüre, um Gegenbeispiele für Venyas Deutungen zu finden - ein reichlich hilfloser Faktencheck mit und gegen die Heilige Schrift. "Elena will mit Venya diskutieren", so Serebrennikov. "Aber es geht nicht um Argumente. Es geht um Hass, und Hass, der sich auf Religion stützen kann, lässt sich nicht mit Reden beikommen." In von Mayenburgs Theaterstück sei die Eskalation ein Gedankenspiel, in Russland sei Venyas Verhalten jedoch naheliegend: "Wir haben ja ein Gesetz, das 'Blasphemie' verbietet. Wir hatten die Prozesse gegen Pussy Riot und gegen verschiedene moderne Kunstausstellungen, die von Leuten angestrebt wurden, die behaupteten, ihre religiösen Gefühlen wären verletzt worden. Wenn du heutzutage in Russland behauptest, dass deine religiösen Gefühle verletzten würden, kannst du dir sicher sein, dass alle dir recht geben."

Entscheidend ist für Serebrennikov deshalb auch nicht das Handeln eines Einzelnen und dessen Motive: "Venya ist nicht meine Hauptfigur, er provoziert nur Reaktionen - und die sind das, worauf es ankommt. Wie die Gesellschaft, die Lehrer, die Mitschüler auf die Provokationen reagieren." In diesen Reaktionen findet Serebrennikov auch den knurrigen Humor, der seinen Film immer wieder durchdringt: Die Bräsigkeit, mit der zum Beispiel die Lehrer den schwelenden Konflikt behandeln, amüsiert eher, als dass sie einen verzweifeln lässt.


"Der die Zeichen liest"
Originaltitel: "(M)Uchenik"

Russland 2016
Regie:
Kirill Serebrennikov

Buch: Kirill Serebrennikov nach dem Theaterstück "Märtyrer" von Marius von Mayenburg
Darsteller: Pyotr Skvortsov, Victoria Isakova, Aleksandr Gorchilin, Julia Aug
Produktion: Hype Film
Verleih: Neue Versionen
Länge: 118 Minuten
Start: 19. Januar 2017


In diesen Momenten des Absurden setzt sich Serebrennikov am stärksten von seinem Kollegen Andrey Swjaginzew ab, der mit seinem vielbeachteten Drama "Leviathan" 2015 für den Oscar nominiert war. Angelehnt an die Geschichte Hiobs erzählt Swjaginzew von einem Mann, der von einer Allianz aus örtlichen Politikern und Klerikalen Schritt für Schritt um seine Existenz gebracht wird - ohne jegliche Aussicht auf Wiedergutmachung. Von solcher Trostlosigkeit will Serebrennikov nichts wissen: "Ohne Humor geht es bei mir einfach nicht. In dunklen Momenten sorgt Humor für Distanz. Er gibt dir Hoffnung, dass du es schon überstehen wirst."

Inwieweit Serebrennikov noch Hoffnung hat, dass Russland von seinem totalitären Kurs abkommt, ist schwer zu sagen. Er gehört zu den Leuten, die zur Hochzeit der Proteste gegen Putins erneuten Wechsel ins Präsidentenamt auf dem Bolotnaya-Platz in der Moskauer Innenstadt demonstrierten. "Das waren Momente absoluten Glücks - wie wir da zusammenstanden mit unseren weißen Schleifen, für unsere Ideale kämpften." Doch dann wäre die Realität in Form des Wahlergebnisses wieder über sie hereingebrochen: "86 Prozent für völlig andere Werte. Danach habe ich nur noch Geschichten von Verzweiflung und Flucht gehört."

Ruhiggestellt mit WLAN

Die aus der aufbegehrenden Mittelschicht, die blieben, wurden vom Moskauer Bürgermeister Sergey Sobjanin mit der Verschönerung der Innenstadt, neuen Kulturstätten, Skater-Parks und kostenlosem WLAN ruhiggestellt. "Die Politiker stellen sich sehr klug an. Sie fragen: 'Was wünschst du dir am meisten? Du kannst alles haben. Du willst Russland ohne Putin? Nee, das geht leider nicht. Also: Was wünschst du dir am zweitmeisten? Parks mit WLAN, in denen du mit deinen Freunden abhängen und skaten kannst? Kein Problem!'"

Für Künstlerinnen und Künstler sei Moskau trotz allem kein so schlechter Ort: "So viele Menschen wollen mit dir ins Gespräch kommen, einfach weil es keine Medien gibt, in denen noch ernsthafte Auseinandersetzungen stattfinden. Die Leute werden von Propaganda überschüttet - durchs Fernsehen, durchs Radio, durch die Zeitungen." Auch beim Filmemachen würde man drangsaliert, da man von staatlicher Förderung abhängig sei. Für ein Filmporträt von Pyotr Tschaikowsky, das Serebrennikov vor einigen Jahren plante, wurden zum Beispiel bereits bewilligte Fördergelder zurückgezogen - weil bekannt wurde, dass Tschaikowskys Homosexualität im Film vorkommen sollte. "Der die Zeichen liest" wurde deshalb ohne russische Förderung gedreht.

Anders sei die Lage im Theater, so Serebrennikov: "Solange wir das Geld für unsere Inszenierungen selber zusammenkriegen, dürfen wir machen, was wir wollen. Und die Leute kommen und geben Geld für ihre Tickets aus. Dass sie wollen, dass wir überleben und so arbeiten, wie wir es tun, bedeutet uns unheimlich viel." Das Theater ist aber auch noch aus einem anderen Grund die Nische, in der er sich am besten aufgehoben fühlt. "Die Menschen flüchten ins Theater, weil hier noch ein Ort zum Fragenstellen ist. Ich habe ja selber nur Fragen, keine Antworten. Ich kann niemandem sagen, wie er zu handeln hat. Ich kann nur fragen, ob es nicht auch anders ginge."

Im Video: Der Trailer zu "Der die Zeichen liest"

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