"Der Rote Kakadu" Klassenklampf und Block 'n' Roll

Was wurde eigentlich wirklich gespielt in Deutschland kurz vor dem Mauerbau? Rock'n'Roll zum Beispiel. So zeigt es Dominik Grafs kluges Gesellschaftsdrama aus den frühen Tagen des real existierenden Sozialismus.

Ein kleiner tragbarer Plattenspieler fordert die Staatsmacht heraus: In einem Dresdner Park hopsen im Frühjahr 1961 ein paar Dutzend junge Menschen zu den Singles von Elvis Presley herum, bevor ein Trupp Volkspolizisten den Rhythmen des Klassenfeindes durch einen Tritt aufs Abspielgerät ein jähes Ende bereitet. Die Rock 'n' Roller mit ihren Hahnenkammfrisuren stäuben auseinander wie aufgebrachtes Geflügel, während den Gesetzeshütern bei der Verfolgung die Vopo-Hüte über die Augen rutschen. Staatsterror als Slapstickeinlage.

Eher zufällig in dieses lustige Getümmel hineingeraten ist der Bühnenbildner Siggi (Max Riemelt), der mit Rock'n'Roll bislang nichts am Hut hatte. Auf einmal ist das Leben aufregend, seine diffusen Sehnsüchte bekommen eine konkrete Ausrichtung: Er verliebt sich in die Dichterin Luise (Jessica Schwarz) und freundet sich mit deren Mann Wolle (Ronald Zehrfeld) an. Beide gehören zum Inventar des Dresdner Nachtclubs "Roter Kakadu". Bald versetzt der Neu-Rocker Siggi im Westen die Meißner-Figuren seiner Tante, kauft sich vom Erlös kanarienvogelgelbe Schuhe und lässt im "Kakadu" den Schampus fließen. Die Bedrohung durch den Staat scheint überschaubar: Dem Parteibonzen pinkelt man schon mal ins Sektglas, SED-Schnüffler füllt man backstage mit Eierlikör ab.

Dominik Graf hat ein Gesellschaftsdrama aus der Zeit kurz vor dem Mauerbau gedreht, als sich der so genannte Ostblock zu formieren begann. Der Tonfall ist über weite Strecken heiter-melancholisch, die Ausstattung aufwändig und bunt, der Bilderrhythmus hat enormen Swing. Man fühlt sich eher an die französische Nouvelle-Vague-Romanze "Jules und Jim" oder ans US-Jugenddramolett "American Graffiti" erinnert als an die zeitgeschichtlichen Aufklärungs- und Erweckungsepen zwischen "Sophie Scholl" und "Luftbrücke", die zurzeit im deutschen Kino und Fernsehen zu sehen sind. Da stellt sich die Frage: Darf man derart flott vom Erwachen eines Überwachungsstaates erzählen? Man darf.

Graf, der nach radikalen, auf Video gedrehten Psychogrammen wie "Der Felsen" oder "Hotte im Paradies" wieder einer Bigger-Budget-Produktion vorsteht, hat das schwierige (vom Privatsender SAT.1 coproduzierte) Projekt vom Regisseur Michael Klier geerbt und mit seinem Stammautoren Günter Schütter umgeschrieben. Nun ist auch auf der diesjährigen Berlinale gezeigte "Rote Kakadu" ein wunderbar wüstes Coming-of-Age-Stück, das ganz ohne volkspädagogischen Impetus auskommt.

Die Trennlinie zwischen gut und böse ist dünn; es gibt keine Streicher, die sich zu düsteren Klangschwaden zusammenziehen, wenn ein Bösewicht auf der Bildfläche erscheint. Graf leuchtet mit seiner Dreiecksgeschichte die Ambivalenzen und Grauzonen jener Zeit aus. Er erzählt von flüchtigem Sex und wackeligen sozialen Arrangements, in denen Freundschaft und Verrat dicht beieinander liegen.

So tritt hinter dem saloppen Rock'n'Roll-Movie der grausame Alltag jener Tage hervor. Das Aufbegehren erfolgt hier am Anfang aus purer Lust; mit Pop stellt sich eine Ahnung ein, wie die Freiheit schmecken könnte. Aber die Beine, die durch die Musik in Bewegung geraten, sind schneller als das Bewusstsein eines am nächsten Morgen heillos verkaterten Körpers: Keiner der jungen Menschen kann die totalitäre Logik des sich erst langsam formierenden Überwachungsstaates durchdringen.

Die frühen Tage des "realen Sozialismus" sind für Graf eine Zeit der Paradoxien - was griffig in jener Szene zum Ausdruck gebracht wird, in der die Hausband des "Roten Kakadus" beim Besuch der SED-Bonzen eine ultraschnelle Surf-Version vom "Kosakenmarsch" spielt. Linientreues Liedgut, dargeboten im Rhythmus des Klassenfeinds.

Der Zuschauer muss Konzentration aufbringen, um in dem gut zweistündigen, gelegentlich launig ausholenden Gesellschaftspanorama alle Widersprüche und Anspielungen registrieren zu können. So zieht zum Beispiel die fiktive Jungdichterin Luise leicht ihr Bein nach - wie einst die reale Schriftstellerin Brigitte Reimann, die als Kind an Kindererlähmung erkrankte und als von der SED geschmähte Autorin für einen idealistischen Sozialismus eintrat.

In einer anderen Szene gemahnt Graf an die Bombennächte von Dresden, ohne sie in wohlfeilen Rückblenden zu visualisieren. Mit einem Trick stellt er die Verbindung vom Vorabend des Mauerbaus zu den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs her: Beim Liebesakt im Eierlikörrausch, den Siggi mit einer Sekretärin im Hinterraum des "Roten Kakadus" vollzieht, ist auf einmal die Erinnerung an das Inferno vom Februar 1945 da. Auf dem Bauch der Frau sieht man Narben, die von Verbrennungen herrühren. Dann hört man den Erzähler eines alten Hörspiels mit befremdlich-dramatischer Stimme die Kriegsereignisse schildern. Durch solche Collagen hält Graf Distanz zum historischen Material und missbraucht es nicht als emotionalen Schmierstoff für die Liebesgeschichte oder zur Heldenstilisierung.

So bleibt "Der Rote Kakadu" trotz seiner Exkursionen ins Elysium des Rock'n'Roll eine sehr nüchterne Angelegenheit: Der Rausch und die Entgrenzung - gegen die Restriktionen des Unrechtsstaates haben sie keine Chance.

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