

Im polnischen Swiebodzin, knapp 80 Kilometer von Frankfurt/Oder entfernt, steht die größte Christusstatue der Welt. Sie ist inklusive Krone 36 Meter hoch und übertrifft damit die Christus-Erlöser-Statue von Rio de Janeiro um sechs Meter. Diese Statue spielt in Malgorzata Szumowkas grandiosen Film "Die Maske" eine wichtige Rolle, sieht dort aber merklich anders aus. Wie überhaupt einiges anders aussieht, allen voran Hauptfigur Jacek (Mateusz Kosciukiewicz), der zur Mitte des Films buchstäblich ein anderes Gesicht bekommt. Doch manchmal kann ein Zerrbild auch die treffendste Repräsentation sein.
Am Anfang von "Die Maske" wird aber erst einmal blank gezogen, auch das buchstäblich. Bei einer Promotionaktion "Weihnachtsschnäppchen für Nackedeis" reißt sich Jacek erst die Klamotten vom Leib, dann einen rabattierten Flachbildfernseher unter den Nagel. Mit dem überdimensionierten Gerät auf dem Autodach geht es zurück nach Swiebodzin, in die Provinz, in der das Gerät der größte Zivilisationssprung seit Langem zu sein scheint.
Zwischen Schweine- und Kuhstall wird für den Weihnachtsbraten gesammelt und dem auswanderungswilligen Jacek beschieden, dass ein Pole gefälligst nach Polen gehöre. Selbst Bauarbeiter Jacek, den es nach England zieht, würde man kaum im 21. Jahrhundert verorten. Jeansweste und Zottelmähne, die er zu Metallicas "Hardwired to Self-Destruct" schüttelt, wirken mindestens doppelt so alt wie der Mittzwanziger. Und die dunkelhäutigeren Kollegen auf der Baustelle schnauzt er schon mal an, dass sie nicht "zigeunerisch" mit ihm sprechen sollen.
Szumowska ist jedoch eine viel zu kluge und einfühlsame Regisseurin, um es beim Ausstellen dieser vermeintlichen Rückständigkeit zu belassen. Sie interessiert nicht unser Blick auf diesen Flecken Polens, sondern Jaceks Blick. Und je länger wir dem durch Michal Englerts Kamera folgen, auf die liebliche Landschaft, die Ausgelassenheit des Dorffestes und nicht zuletzt in das herzförmige Gesicht seiner Verlobten Dagmara (Malgorzata Gorol) schauen, desto mehr wird er zu unserem eigenen.
Die Tragödie, die Jacek ereilt, trifft deshalb auch uns so vehement. Ein schwerer Arbeitsunfall bringt ihn ins Krankenhaus, und was dort mit ihm passiert, leitet die Blicke plötzlich auf ihn, gegen ihn, gegen uns. Ist Mitleid besser zu ertragen als offene Feindseligkeit? Während man noch darüber grübelt, trinkt sich Jacek bereits einen Rausch an, in dem ihn Dagmara noch einmal voller Liebe und nicht voller Entsetzen ansieht. Dann wird er sturzbetrunken von der Dorfhochzeit weggetragen.
"Die Maske"
Polen 2018
Originaltitel: "Twarz"
Regie: Malgorzata Szumowska
Drehbuch: Michal Englert, Malgorzata Szumowska
Darsteller: Mateusz Kosciukiewicz, Malgorzata Gorol, Agnieszka Podsiadlik
Produktion: Nowhere et al.
Verleih: Grandfilm
Länge: 91 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Start: 14. März 2019
"Die Maske" erzählt so die Geschichte einer Entfremdung, in der niemand fliehen muss, um seine Heimat zu verlieren. In der jemand im Innersten derselbe bleibt und doch für seine Freunde und Familie ein ganz anderer wird. Dieser großen Tragödie versetzt Szumowska mit satirischen Momenten viele kleine Stiche, etwa wenn Jaceks Familie bei seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus wie ein Trupp asiatischer Touristen Atemschutzmasken trägt.
Der inszenatorische Ideenreichtum, den Szumowska dabei zeigt, ist wie gewohnt beeindruckend. Doch ganz so überraschend und poetisch verquer wie bei ihrem Vorgängerfilm "Body" gelingen ihr die humorigen Akzente hier nicht. Bei "Body" konnte sie sich aber auch in metaphysische Zwischenbereiche zurückziehen und Leichen zeigen, die heilfroh von ihren Tatorten fliehen. "Die Maske" ist hingegen in der akuten polnischen Gegenwart verortet, die will Szumowska in all deren Bigotterie einfangen.
Zuhause wurde die 46-Jährige deswegen schon angefeindet, für national gesinnte Verschwörungstheoretiker passend, kommen ihre Filme auch noch international verdächtig gut an. So wurde "Body" 2015 mit dem Publikumspreis des Europäischen Filmpreises ausgezeichnet, für "Die Maske" gab es 2018 den Jurypreis der Berlinale, und Szumowskas nächster Film "All Inclusive" dürfe im Mai seine Premiere in Cannes feiern.
In "Die Maske" einen nationalen Affront zu sehen, bedarf allerdings einiger Böswilligkeit. Denn so zärtlich und melancholisch wie Szumowska hier ihre Gesellschaftskritik entwickelt, ist Satire selten. Das zeigt sich auch auf der Ebene des Soundtracks. Metal ist zwar Jaceks bevorzugte Musik, die er auch schon mal auf der Luftgitarre nachspielt. Doch ein Track von Großraum-Disco-DJ Gigi D'Agostino ist der, der am häufigsten und an den wichtigsten Stellen erklingt. Der Name des billigen, scheppernden, aber auch toll wehmütigen Songs: "L'amour toujours".
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2010 wurde im polnischen Swiebodzin die weltgrößte Christus-Statue errichtet.
Samt Krone beträgt ihre Höhe 36 Meter.
Das sind sechs Meter mehr als bei der Christus-Statue von Rio de Janeiro.
Wegen seiner langen Haare wird Jacek (Mateusz Kosciukiewicz) mitunter auch Jesus genannt.
Er wohnt in der Nähe von Swiebodzin und hat dort eigentlich alles, was er braucht - zum Beispiel seine Verlobte Dagmara (Malgorzata Gorol).
Auch die Natur weiß er hier zu schätzen. Trotzdem zieht es Jacek in die Ferne, vielleicht geht er demnächst nach England.
Ein schwerer Unfall auf der Baustelle für die Christus-Statue macht jedoch nicht nur Jaceks Auswanderungspläne zunichte.
Bis auf seine Schwester (Agnieszka Podsiadlik) wendet sich jeder im Dorf und in der Familie von ihm ab.
Für "Die Maske" gewann Regisseurin und Co-Autorin Malgorzata Szumowska 2018 den Jurypreis der Berlinale.