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Dokumentarfilm "Babys": Im Krabbel-Modus

Foto: Kinowelt

Dokumentarfilm "Babys" Bäuerchen global

Zwischen Säuglings-Yoga und Lendenschurz: In "Babys" porträtiert der französische Dokumentarfilmer Thomas Balmès vier neue Erdlinge auf drei Kontinenten. Herausgekommen ist ein kleiner Film, der im Krabbelmodus darüber reflektiert, was es bedeutet, in unserer Zeit geboren zu werden.

Sie können sich an kein Skript halten, denn sie können weder lesen, noch einigermaßen verständliche Sätze von sich geben. Sie können keine Regieanweisungen einhalten und interessieren sich nicht für Drehzeiten: Ponijao, Mari, Bayar und Hattie sind Babys. Und sie sind die Hauptdarsteller in einem Dokumentarfilm von Thomas Balmès. Der französische Filmemacher begleitete die vier von ihrer Geburt an ein Jahr lang mit der Kamera, um zu ergründen, was es heißt, in der heutigen Zeit in diese Welt geboren zu werden.

Für die Dreharbeiten reiste Balmès in vier grundverschiedene Regionen: nach Namibia, Japan, in die Mongolei und die Vereinigten Staaten. Als erstes lernen wir Ponijao kennen. Dem kleinen Mädchen aus Namibia ist nie langweilig: Sie hat neun Geschwister und jede Menge tierische Spielkameraden. Ihre Eltern gehören dem Stamm der Himba an. Sie sind Nomaden und züchten Rinder und Ziegen. Ponijao ist fast immer draußen in der Natur. Als Bekleidung trägt sie nur einen Lederschurz und traditionellen Stammes-Schmuck.

Allein unter Rindern

Hattie kommt aus Kalifornien. Sie hat keine Geschwister. Ihre Eltern sind Akademiker. Sie lesen ihrer Tochter oft Bücher vor und besuchen mit ihr Baby-Gymnastikkurse. Bei schönem Wetter darf Hattie mit ihrer Mom im hauseigenen Swimmingpool planschen. Ihr liebster Spielkamerad ist ihre getigerte Katze.

Auch Mari ist Einzelkind. Sie lebt mit ihren Eltern und einer Hauskatze in Tokio. Wenn Mari ausgeht, fährt sie mit ihren Eltern Straßenbahn oder wird in einem Tragetuch durch die Menschenmassen der Metropole getragen. Zum Spielen geht die Kleine regelmäßig mit ihrer Mutter in Babytreffs.

Bayar aus der Mongolei wohnt in einer Jurte, dem traditionellen Zelt der asiatischen Nomaden. Auch seine Eltern züchten Rinder, aber der Junge hat nur einen älteren Bruder - der ihn ganz schön ärgert. Wenn seine Eltern sich um das Vieh kümmern müssen, fährt ihn der Bruder in seinem Buggy nach draußen auf die Kuhweide - und lässt ihn dort alleine inmitten der Rinder stehen. Oder Bayar liegt alleine auf dem Bett und bekommt Besuch von einem Hahn.

Mit Spucke gewaschen

Für Balmès war der Film ein Experiment - immerhin mussten sich die Szenen selbst erklären. Auf Dialoge und Off-Kommentare verzichtete der Regisseur komplett, verließ sich ganz auf seine neugeborenen Nachwuchsdarsteller. Fast zwei Jahre dauerten die Dreharbeiten. Die Herausforderung bestand laut Balmès darin, die Babys immer genau dann zu erwischen, wenn sie etwas zum aller ersten Mal in ihrem Leben taten - und das habe Zeit gekostet. Zeit, die der Film auch seinen Zuschauern gönnt: "Wir hatten im Vorfeld ein paar Richtlinien festgelegt", erzählt Balmès im Presseheft des Verleihs, "etwa, dass wir lange Einstellungen und ein beschauliches Tempo favorisieren wollen."

Jede Sequenz spricht so für sich selbst. Zum Beispiel wenn Hattie am einen Ende der Welt mit ihrem Papa unter der prasselnden Dusche steht, während Ponijao auf der anderen Seite des Äquators von ihrer Mutter mit Spucke gewaschen wird. "Das ist die realste Dokumentation die ich je gemacht habe", sagte Balmès, der der Realität schon oft auf der Spur war: Er hat Filme über Uno-Soldaten in Bosnien, über den Rinderwahnsinn in Indien und eine chinesische Zuliefererfirma für Nokia gemacht.

Tierknochen statt Flauschi-Welt

Der Film spricht kein Urteil über die unterschiedlichen Gewohnheiten, Sitten und Bedingungen. Manchmal scheint es, als wäre das Aufwachsen in Namibia und der Mongolei unkomplizierter und fröhlicher als in den hochentwickelten Ländern. Doch das mag auch daran liegen, dass "Babys" nicht sehr repräsentativ ist, was die Umstände in der sogenannten Dritten Welt betrifft. Der Film porträtiert Naturvölker, also Lebensweisen, die im globalen Süden mit seinen verslumten Megacitys immer mehr eine Randerscheinung sind. Die Favelas von Rio de Janeiro oder Neu Delhi wären sicher repräsentativer gewesen - aber im Zweifel auch schwerer zu ertragen.

"Wir wollten Familien mit unterschiedlichen Lebensweisen und Erziehungsmethoden. Wobei sie nicht zwingend repräsentativ sein sollten für die Länder, aus denen sie stammen", erklärt Balmès. Auch bei der Auswahl der westlichen Familien suchte er nicht nach landestypischen Merkmalen: "Die amerikanischen Eltern etwa arbeiten als College-Professorin und Kameramann. Hätte ich eine Familie aus dem Mittleren Westen genommen, die zunächst "typischer" erscheint, weil sie den ganzen Tag Fernsehen guckt und Hamburger isst, wäre es schnell zur Karikatur und zum Klischee verkommen."

Auch in die Kitsch-Falle tappt Balmès dankenswerterweise nicht: Das Gebrabbel, Geplärre und Umherwackeln der vier Erdneulinge ist eingebettet in eine angenehm trockene und trotzdem poetische Erzählweise, die nicht auf Effekte setzt. Die Flauschi-Welt aus der Windelwerbung ist hier nicht zu finden. Stattdessen: Kleinkinder die auf Tierknochen kauen, aus Yogastunden flüchten oder mit einer Fusselbürste abgerubbelt werden nachdem sie auf dem Teppichboden herumgerobbt sind. So entsteht eine charmante filmische Suite über das erste Lebensjahr. Und natürlich sind die vier Kleinen vorrangig süß und lustig anzuschauen. Es sind halt Babys.

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