
"Nach der Stille": Versöhnungsversuch in Palästina
Dokumentarfilm "Nach der Stille" Familie treffen im Feindesland
"Vielleicht sehe ich ihn nie wieder", schießt es Yaël Armanet durch den Kopf, als sie ihren Mann Dov im Rückspiegel des Autos kleiner werden sieht. Sie will für ein paar Tage nach Frankreich, Dov bleibt in Israel. Sofort verbietet Yaël sich diesen Gedanken wieder. Wenig später ist Dov tot. Es ist März 2002, die Hochzeit der zweiten Intifada, fast täglich explodiert eine Bombe. Eine davon trifft Dov Chernobroda. Er sitzt beim Mittagessen in einem Restaurant, als ein Mann das Lokal betritt und sich in die Luft sprengt.
Wie geht man mit so einem Verlust um, wie bewahrt man sich vor Hass und Verzweiflung? "Es wäre so leicht gewesen, zu hassen", sagt Yaël über die Zeit nach dem Anschlag. Aber sie hat einen anderen Weg gefunden, mit dem Schicksal umzugehen. Davon erzählt der Film "Nach der Stille", der jetzt in den Kinos läuft.
Acht Jahre nach dem Tod ihres Mannes ist Yaël ins Westjordanland gefahren, nach Dschenin, an den Ort, an dem der Attentäter Shadi Tobassi lebte. Sie hat seine Eltern besucht. Die beiden jungen deutschen Regisseurinnen, Stephanie Bürger und Jule Ott, haben sie dabei mit der Kamera begleitet. Die Idee für den Film kam von Yaël selbst. "Die Begegnung mit den Tobassis sollte eine Geste der Versöhnung sein", sagt sie heute über das Filmprojekt.
40 Kilometer zur Versöhnung
Dschenin, der Heimatort des Attentäters, liegt keine 40 Kilometer von Haifa entfernt, und doch kannte Yaël die Stadt nur aus den Nachrichten. "Ich wusste, dort wohnen viele gefährliche Menschen, aber auch Menschen, die Frieden wollen", erzählt sie.
Warum hat Yaël Armanet das getan, warum ist sie nach Dschenin gefahren, wie hat sie das ausgehalten? Diese Fragen stellt der Film nicht explizit und Yaël scheint sie auch nicht zuzulassen. So überzeugt wirkt sie von ihrer Mission für den Frieden. "Hätte mein Mann überlebt, er wäre auch nach Dschenin gefahren", ist sich Yaël sicher, "nur wahrscheinlich viel früher als ich." Ihr Mann habe sich immer für Frieden zwischen Palästinensern und Israelis eingesetzt. Er habe die Hoffnung nie aufgegeben. Als Architekt hat Dov in den arabischen Städten im Norden Israels gearbeitet.
Yaël spricht viel von Hoffnung, auch heute, fast zehn Jahre nach dem Anschlag und eineinhalb Jahre nach Entstehung der Dokumentation. Sie hat sich in all den Jahren der Trauer daran festgehalten: "Wir können uns den Luxus nicht erlauben, keine Hoffnung zu haben." Wenn Versöhnung zwischen zwei Familien möglich ist, dann vielleicht auch irgendwann zwischen zwei Völkern.
Der Film handelt von einer persönlichen Annäherung, aber er zeigt auch das Umfeld: Yaël beschreibt die beklemmende Stimmung in Israel während der zweiten Intifada, über 500 Israeli sind nach Angaben israelischer Behörden durch Selbstmordattentäter getötet worden. Die Nachrichtenbilder des zerbombten israelischen Restaurants, in dem Dov starb, werden überlagert von Bildern zerstörter Häuser im Westjordanland. Wenige Tage nach Dovs Tod marschierte die israelische Armee mit Panzern und Bulldozern in Dschenin ein und zerstörte große Teile der Stadt. Ein ehemaliger Anführer der radikalen palästinensischen Aksa-Märtyrer-Brigaden erzählt, wie ein Scharfschütze seine Mutter mit einem Schuss tötete.
Arabische Bekannte hatten Yaël im Vorfeld gewarnt, die Familie Tobassi werde ihre Geste nicht verstehen, diese Art der Versöhnung sei in der arabischen Kultur nicht vorgesehen. Und auch viele ihrer Freunde haben sie nicht verstanden, israelische Juden, aber auch Katholiken in Frankreich.
Ein Prozent für den Frieden
Und die persönliche Annäherung war schwierig. Bevor es zu dem Treffen zwischen Yaël und den Tobassis kommen konnte, verbrachten die beiden deutschen Regisseurinnen Monate bei der Familie Tobassi in Dschenin. Als sie Zakaria Tobassi, den Vater des Attentäters, fragten, ob er von den Plänen seines Sohnes gewusst habe, wurde das aufgebaute Vertrauen schlagartig zerstört. Allein der Verdacht, der Vater könne etwas gewusst haben, kann ihn in große Schwierigkeiten mit der israelischen Regierung bringen. Erst nach einiger Zeit durften die Filmemacherinnen die Kamera wieder mit ins Haus der Tobassis bringen. Dann, viel später, das allererste Telefonat zwischen Yaël und Zakaria. "Sie sind in meinem Haus willkommen", sagt Zakaria Tobassi. Dieses Haus hat er nach dem Angriff der israelischen Armee an selber Stelle wieder aufgebaut, er wohnt dort mit seiner Frau, seinen Söhnen, die als Maler arbeiten, und deren Familien.
Die Tobassis haben Yaël in ihr Haus aufgenommen, haben vor ihrem Besuch die Bilder des Sohnes abgehängt, sind mit ihr durch die Straßen von Dschenin gelaufen, unter den Augen der Nachbarn. Sie haben die Geste verstanden und erwidert.
Es gibt eine Szene im Film, da stellt die palästinensische Co-Regisseurin Manal Abdallah die Dokumentation in Frage. Sie fürchtet, dass ein falsches Bild der Israelis entsteht. Schließlich wollten nur ganz wenige wie Yaël Frieden, "höchstens ein Prozent". Diese Passage macht Yaël heute noch traurig, wenn sie über den Film spricht, und auch ein bisschen wütend. Ihre ruhige Stimme wird aufgeregt und lauter. "Ich verstehe nicht, wieso sie so etwas sagt. Nur ein Prozent, das stimmt nicht. Wir sind mehr als viele denken." Yaël wünscht sich, dass das auch in den besetzten Gebieten ankommt. Doch Panzer und Grenzposten sind präsenter als Worte.
Im Februar 2011 haben sich Yaël Armanet, Zakaria und Nadije Tobassis noch einmal gesehen. In Berlin, auf der Gala von Cinema for Peace standen sie gemeinsam auf der Bühne. Danach unterhielten sie sich über ihre Kinder und Enkelkinder, Zakaria Tobassi zeigte Fotos auf seinem Handy. "Wir werden uns wiedersehen", sagte er zum Abschied.