Dokumentarfilm "Raw Deal" Verführung oder Vergewaltigung?
Die eine Szene spielt auf einer Hafenbrücke in Frankfurt: Ein Mann und eine Frau haben Oralsex, später wird die Frau angeben, der Mann habe sie vergewaltigt. Der Mann ist Andreas Türck, der Fernsehmoderator.
Die andere Szene findet in einem amerikanischen Studentenwohnheim in Gainesville, Florida, statt: Auf dem Boden liegt ein nacktes Pärchen, laute Musik läuft, Bierbecher stehen herum, immer wieder laufen Leute durchs Bild. Die Bewegungen des Pärchens sind eindeutig. Auch hier wird die Frau später sagen, sie sei vergewaltigt worden.
Andreas Türck wurde vergangene Woche freigesprochen, das Frankfurter Landgericht hielt die wichtigste Zeugin der Anklage für nicht glaubwürdig genug.
Das Pärchen in Florida kann man sehen in einem preisgekrönten Dokumentarfilm; "Raw Deal - A Question of Consent" heißt er, und auf das DVD-Cover ist eine Frage gedruckt: "Würden Sie eine Vergewaltigung erkennen, wenn Sie eine sehen?"
Genau wie bei Türck geht es in "Raw Deal" um die Frage, ob der Sex freiwillig oder erzwungen war. Aber anders als in Frankfurt muss man in "Raw Deal" nicht die Glaubwürdigkeit von Zeugen beurteilen, der Fall liegt auf Video vor. Doch das macht die Sache nicht leichter: Das Werk des US-Filmemachers Billy Corben ist ein Lehrstück über die Schwierigkeit, ein Geschehen richtig zu bewerten, selbst wenn man es als Video vor sich hat.

Dokumentarfilm: "Raw Deal - A Question of Consent"
Die Szenen in "Raw Deal" sind nicht gestellt, Corbens Film nutzt originales Amateurmaterial, gedreht 1999 im Wohnheim der Studentenverbindung Delta Chi. Die Studenten hatten Stripperinnen angeheuert, darunter die 27-jährige Lisa Gier King. 150 Dollar sollte sie für den Auftritt erhalten, plus Trinkgeld. Lisa strippte, die Jungs johlten und hefteten ihr Dollars ans Strumpfband. Zwei Studenten filmten mit ihren Videokameras. Am nächsten Morgen tauchte Lisa völlig verängstigt in einem benachbarten Wohnblock auf. Sie sei vergewaltigt worden, sagte sie.
Der Polizei berichtete sie, es gäbe einen Videobeweis für die Tat. Alles, was mit ihr geschah, sei mit zwei Kameras aufgenommen worden. Für die Polizei war das gewissermaßen ein Glücksfall. Normalerweise gibt es bei Vergewaltigungen keine unbeteiligten Zeugen. Die Polizei beschlagnahmte die Bänder. Doch die diensthabende Polizistin konnte auf dem Video keine Vergewaltigung erkennen. Sie meinte zu sehen, dass King ohne Zwang mitmachte. Die Polizistin schrieb eine Anzeige wegen falscher Anschuldigungen und nahm die Stripperin vorläufig fest.
Die Originalbänder, aus denen "Raw Deal" Ausschnitte verwendet, laufen vier Stunden. Zu sehen ist, wie eine Party außer Kontrolle gerät. Die Studenten und die Stripperin trinken eine Menge Bier, es gibt Macho-Geprotze und anzügliche Witze. Ein Student namens Mike schiebt seinen kahlgeschorenen Kopf direkt vor die Linse. "Mission Nummer eins", flüstert er: "eine nackte Frau kriegen". Aus dem Hintergrund lacht jemand: "Mike fickt heute Stripperinnen." Später steht King auf, sie streift ihr Kleid über den Kopf und gibt noch eine zweiminütige Gratisvorstellung. Den Slip behält sie an. Man sieht sie auf dem Schoß von Mike, der inzwischen aufs Sofa gewechselt ist.
"Zeig mir, was du kannst", sagt Mike an dieser Stelle. "Los, zeig, was du hast." Sie antwortet: "Zeig mir, dass du ein Mann bist." Er drängt sich zwischen ihre Beine, sie simulieren ein kurzes Gerammel. Lisas Stimme klingt ein bisschen spöttisch: "Ja, ja, du bist ein ganzer Kerl."
Doch Mike ist für Ironie schon zu betrunken. Er hält ihre Arme fest, aber nicht so fest, dass sie sich nicht bewegen könnte. Er macht einfach nur klar, wer im Zweifelsfall der Stärkere wäre.
Ein wenig später sieht man Lisa wieder mit Mike streiten, heftiger als vorher. Es sind nur Wortfetzen zu verstehen, immer wieder fällt der Begriff "Respekt". Mike und Lisa ringen. Natürlich ist er stärker. Mike trägt jetzt nur noch eine Unterhose, King ist nackt. Sie ist die Unterlegene. Aber sobald er sie freigibt, spielt sie mit ihm. "Zeig's mir", sagt sie, hockt sich auf ihn, steigt wieder herab, setzt sich aufs Sofa und kuschelt sich an einen anderen.
Es gibt keine Stelle, an der Lisa Gier King nein sagt. Es gibt kein eindeutiges Stoppsignal. Es gibt viele Gelegenheiten, unbehelligt aufzustehen und zu gehen.
Als es schließlich zum Sex kommt, lässt sich nicht mehr sagen, ob der Akt nur freudlos ist oder erzwungen.
Mike hält die Frau fest, jedenfalls eine Zeit lang. Und es ist auch deutlich, dass er sie nicht liebkosen will, sondern besiegen.
Aber King gibt sich nicht wie eine Verliererin, sie bleibt im Zimmer und versucht, einen anderen Studenten zum Oralverkehr zu überreden. Das passt nicht zu einer Frau, die gerade vergewaltigt wurde.
Für die Polizei jedenfalls gilt Lisa nicht als Opfer, folglich braucht ihre Privatsphäre nicht geschützt zu werden. Die Videos der Studenten sind nur noch normale Beweismittel - und damit für jedermann frei zugänglich. Um an das Material für seinen Dokumentarfilm zu kommen, musste Corben bei der Staatsanwaltschaft in Florida nur eine Leerkassette einreichen.
"Raw Deal" lief bisher im britischen und im niederländischen Fernsehen - deutsche Sender lehnten wegen der Hardcore-Szenen ab. Wer den Film hierzulande sehen will, muss ihn sich entweder umständlich übers Internet besorgen oder warten, bis die Produzenten einen deutschen Partner für den DVD-Vertrieb gefunden haben.
Bei Vorführungen von "Raw Deal" auf dem Sundance-Festival oder in Edinburgh war das Publikum jeweils tief gespalten: Die meisten Männer sagten hinterher, was sie gesehen hatten, sei eine Vergewaltigung gewesen. Die weiblichen Zuschauer fanden, Lisa Gier King habe sich alles selbst zuzuschreiben. Es ist, als würde jeder sich für die Rolle schämen, die sein Geschlecht in dem Stück spielt.