"Drei Zinnen" mit Alexander Fehling Gipfel der Gefühle
"Das ist doch total unrealistisch!" Oh ja, ein Kinobesuch kann zum Hochamt werden für die Spezies der Erbsenzähler. Unwahrscheinliche Handlungswendungen haben es ihnen angetan, mit unbarmherziger logischer Intervention lassen sie noch jeden gen Himmel strebenden Film brutal auf die Erde stürzen. Wenn nach "Drei Zinnen" im Kino das Licht wieder angeht, dürfte sich das Gezeter noch lauter erheben als sonst.
Weil es der junge Regisseur Jan Zabeil geradezu darauf anlegt. Sein zweiter Film "Drei Zinnen" geht unter die Haut, weil er im Außen der Natur ein Innen sucht; weil er die Felstürme in den Dolomiten zum Schauplatz seelischer Zustände und zwischenmenschlicher Grauzonen macht. Ungenau ist sein Film deshalb noch lange nicht, ganz im Gegenteil. Aber Zabeil nimmt sich dramaturgische Freiheiten heraus, die "Drei Zinnen" aus der Realitätshörigkeit so vieler deutscher Pendants herausragen lassen.
Dabei ist sein Thema eines, das sich auch wunderbar für einen einschlägigen Fernseh-Freitagabendfilm eignen würde: das Phänomen Patchworkfamilie. Die Geschichte dreht sich um den Deutschen Aaron (Alexander Fehling), seine französische Freundin Lea (Bérénice Bejo) und deren Sohn Tristan (Arian Montgomery). Die drei sind im Urlaub, plantschen in einem Strandbad, Aaron bringt Tristan das Schwimmen bei. Danach geht es zurück in eine Berghütte in den Dolomiten.

"Drei Zinnen": Die Natur als Hauptfigur
Die Idylle trügt natürlich, wie sich bald herausstellt. Ein unverfängliches Gespräch bei Tisch offenbart, welche Konfliktlinien zwischen den Akteuren verlaufen. "Was hältst Du davon, wenn wir Nachwuchs bekommen?", fragt Lea ihren Sohn, der als Antwort wortlos aufsteht. Lea hat Tristans Vater vor zwei Jahren für Aaron verlassen; nun möchten die beiden Erwachsenen gern zu einer richtigen Familie werden. Aber ständig klingelt Tristans Handy, sein Vater ist dran. Und der Junge reagiert allergisch auf jeden Versuch, den Status quo zu ändern.
Zwischen Loyalität und Ferienlaune
Er ist hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für Aaron und Loyalität mit seinem Papa, zwischen unbeschwerter Ferienlaune und dem tränenerstickten Wunsch, alles möge wieder so sein wie früher. Einmal flüstert er dem schlafenden Aaron "Papa" ins Ohr, wie um das Wort zu testen. Dann wieder drängt er sich nachts zwischen ihn und Lea.
"Manchmal habe ich das Gefühl, Tristan sei mein eigenes Kind, so sehr liebe ich ihn", sagt Aaron. "Und dann wieder ist er wie ein Strick um meinen Hals."
Es will einfach nicht vorwärts gehen, wie Lea und er sich das vorgestellt haben. Eher geht es in Trippelschritten vor und zurück, wieder und wieder. Eine zermürbende Unklarheit, die in "Drei Zinnen" nicht zerredet, sondern gezeigt wird. Kleine Gesten, die von mühsam unterdrückter Wut künden, begonnene Halbsätze, die im Gestrüpp der Gefühle versanden. Jan Zabeil dokumentiert dieses Angezogensein und Abgestoßenwerden mit großer Präzision.
Das ist überraschend für einen Regisseur, der 2011 für sein Filmdebüt "Der Mensch war einst ein Fluss" mit Alexander Fehling nach Botswana reiste mit nichts als einem sechsseitigen Treatment in der Hand und mutig drauflos filmte. Herausgekommen ist ein schwebendes, geradezu transzendentales Meisterwerk, wie man es seit Werner Herzogs "Aguirre, der Zorn Gottes" nicht mehr von einem deutschen Regisseur gesehen hat. Schon damals verlor sich einer in der Natur, lösten sich die Grenzen zwischen Mensch und Raum auf.
"Drei Zinnen"
Deutschland, Italien 2017
Buch und Regie: Jan Zabeil
Darsteller: Alexander Fehling, Bérénice Bejo, Arian Montgomery
Verleih: NFP
FSK: ab 12 Jahren
Länge: 90 Minuten
Start: 21. Dezember 2017
Auch in "Drei Zinnen" wird, so formuliert Zabeil es selbst, die Natur zur vierten Hauptfigur. Es dauert nur etwas länger, bis sie sich mit Macht ins Geschehen drängt. Aaron unternimmt einen weiteren Versuch, Tristans Nähe zu suchen, und bricht mit ihm am frühen Morgen auf, um den Sonnenaufgang an den Drei Zinnen zu beobachten. Aber das Katz-und-Maus-Spiel geht weiter: Irgendwann sind Aarons Schnürsenkel aus seinen Schuhen verschwunden, es gibt Streit, und kurz darauf ist auch Tristan weg. Nebel zieht auf. Mitten im Sommer hält der Winter Einzug.
Vom Familien- zum Überlebensdrama
Das ist die Stelle, an der die Erbsenzähler ganz nervös werden und ungläubig die Stirn runzeln. Es ist aber auch die Stelle, an der "Drei Zinnen" abhebt, an der Zabeil die Stricke herkömmlicher Dramaturgie kappt und das Familien- in ein Überlebensdrama überführt. Was ja auch im wirklichen Leben oft auf das Gleiche hinausläuft, insofern bleibt "Drei Zinnen" ganz realistisch.
Deshalb funktioniert der Übergang auch ohne Bruch. Das letzte Drittel von "Drei Zinnen", das noch Wendungen parathält, die das Stirnrunzeln bei einigen Zuschauern stetig vertiefen dürfte, entwickelt sich organisch aus dem genau beobachteten Drama, das sich zuvor abspielte. Das verzweifelte Suchen und Kämpfen am Berg hebt das Geschehen auf eine symbolische Ebene; die Natur steht für eine stumme Schicksalhaftigkeit, angesichts der das menschliche Ringen um Nähe und Verbundenheit umso verzweifelter wirkt.
Jan Zabeil arbeitet also mit großem Metaphernbesteck. An einem eisigen Bergsee verschmelzen Aaron und Tristan sogar für einen kurzen Moment zu einer Pietà: Aaron als Schmerzensmutter Maria, Tristan der gemarterte Jesus. Darauf muss man sich einlassen. Dann aber erlebt man in diesem mächtigen filmischen Hallraum einen Rausch widerstreitender Gefühle.
Im Video: Der Trailer zu "Drei Zinnen"