Berlinale 2020 Eine Kuh erklärt die Welt

Keine Kuh, kein Leben: "First Cow" von Kelly Reichardt
Foto:Allyson Riggs/ Allyson Riggs/ A24/ Berlinale
Politischen Großereignissen wie der Mordserie von Hanau, dem Coronavirus oder der Hamburg-Wahl hat die Berlinale nichts entgegenzusetzen. Sie sind zwar dauerpräsent im Festivalalltag, sei es durch die Schweigeminute, die in Gedenken an die Opfer von Hanau bei der Eröffnungsgala eingelegt wurde, durch die Atemschutzmasken, mit denen etliche Kolleginnen über den Potsdamer Platz eilen, oder durch die Handys, die nach den späten Vorstellungen am Sonntagabend schnell angeschaltet wurden, um zu überprüfen, ob es die AfD doch noch in die Hamburger Bürgerschaft geschafft hat.
Doch mit der Realität mithalten können die gezeigten Filme nicht. Und warum sollten sie das auch? Würde das Kino die Wirklichkeit nur doppeln, wäre es überflüssig, denn es würde uns nichts Neues sehen lassen. Die Filme, die bislang aus der Berlinale 2020 herausragen und somit schon so etwas wie die kuratorische Handschrift vom neuen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian und seinem Team erahnen lassen, stehen den Großereignissen dieser Tage diametral entgegen, sind sogar radikal kleinteilig.
Sie zerteilen die Wirklichkeit in kleinste Räume, in Detaildiskussionen und kaum definierbare Interaktionen. Das Bild, das die Filmemacher aus diesen Realitäts-Partikeln wieder zusammensetzen, ist ein so feines, dass es das nicht im Kino geschulte Auge kaum erkennen könnte. Die Berlinale 2020 lehrt tatsächlich ein neues Sehen.
Am unterhaltsamsten gelingt dies der US-Indiefilmemacherin Kelly Reichardt, eigentlich bekannt für minimalistische Charakterskizzen wie "Certain Women". In ihrem Wettbewerbsfilm "First Cow" stellt Reichardt um 1820 eine Kuh in einen spärlich besiedelten Teil von Oregon. Einsam, weil der für sie vorgesehene Bulle beim Transfer aus Kalifornien gestorben ist, und unwissend über ihren Pionierstatus, weil sie tatsächlich die erste Kuh in Oregon ist, steht sie dort rum.
Das sind die besten Filme der Berlinale

Ein Mann, der minutenlang einfach nur sitzt, während draußen an sein Fenster der Regen prasselt. Ein anderer Mann, der akribisch Gemüse und Fisch wäscht, dann daraus ein Gericht zubereitet: Kang, dem stets traurig-melancholisch schauenden Protagonisten des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-Liang sieht man oft zu, als betrachte man eine Naturdoku: Er wird auf seine Physis und seine Kreatürlichkeit zurückgeworfen. Handgeformtes Kino nennt Tsai seine eindrückliche Art zu filmen. So ist es auch in "Rizi” ("Days”, Wettbewerb), der den unter schlimmen Nacken und Schulterverspannungen leidenden Kang in Bangkok mit dem jungen, kochenden Reinlichkeitsfanatiker zusammenführt. Die Wege dieser beiden einsamen Männer kreuzen sich in einem Hotelzimmer zu einer zwar bezahlten, aber dennoch sehr zärtlichen Massage-Session. Der Schmerz des einen löst sich in der hingebungsvollen Dienstleistung des anderen auf - ein wundervoller, existenziell tröstender Kino-Moment, der komplett ohne Dialoge auskommt und doch alles über das Bedürfnis nach menschlicher Nähe erzählt. Andreas Borcholte

John Erdman (links) und Jonathan Perel in "The Last City"
Foto: Heinz Emigholz/ Filmgalerie 451/ BerlinaleGut möglich, dass Carlo Chatrian und seinem Team erst nach der Sichtung von "The Last City" die Idee zur neuen Sektion "Encounters" kam - denn wie kein Beitrag sonst gibt Heinz Emigholz' neuer Spielfilm dem wilden Geist der neuen Reihe eine Form. In fünf Städten (darunter: Berlin und São Paulo) kommt es zu fünf außergewöhnlichen Begegnungen (darunter: ein 70-Jähriger trifft sein 30-jähriges Selbst, ein inzestuös lebender Priester seine Mutter), gespielt von fünf Darstellenden, die in jeweils zwei Episoden ganz andere Charaktere darstellen (darunter: Susanne Sachsse und Jonathan Perel). Verbunden ist dieses herrliche Durcheinander durch Emigholz' brillante Dialoge, deren Geist in alle Richtungen sprüht - gegebenenfalls sogar bis ins Weltall, denn zu Kosmologie hat Emigholz neben Waffenindustrie und alternativen Familienmodellen auch noch etwas zu sagen. Und für die Kulinariker unter den Cinephilen gibt es kopulierende Pfannkuchen und eine deutsch-japanische Schuldwurst. Was will man mehr? Hannah Pilarczyk

Rauch? Nebel? Qualm? Etwas wabert jedenfalls durch Straßen einer alten Industriestadt in Lothringen und manchmal sogar durch die Innenräume von Jonathan Rescignos Dokumentarfilm "Grève ou crève" (Forum). Es ist die einzige behutsame Stilisierung, die der Regisseur vornimmt, sie drückt im Bild aus, worum es in seinem Film geht: dem Erbe der großen Bergarbeiterstreiks nachzugehen, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren die Region erschütterten. Die Archivaufnahmen sind krass: Arbeiterkörper gegen Polizistenkörper, Tränengas, Schlagstöcke, Steine, Explosionen wie in Kriegsbildern. In der tollen Anfangssequenz überführt Rescigno diese kinetische Energie von den VHS-Bildern mit einem Schnitt in die Gegenwart, in das Boxtraining der nächsten Generation. Ein Film über die Kraft des Protests, und wohin sie (vielleicht) gegangen ist. Till Kadritzke

Lena Watson in "The Trouble With Being Born"
Foto: Panama Film/ BerlinaleZunächst sieht man in Elli ein zehnjähriges Mädchen, das den Sommer mit Papa am Pool verbringt. Dann ein Speichermedium für Erinnerungen an das Kind, das dieser Papa vor zehn Jahren verloren hat. Dann ein sehr elaboriertes Sex-Spielzeug, dessen Sonderausstattung sind besonders leicht abwaschen lässt - in einer nicht allzu entfernten Zukunft können Kinder-Androiden offenbar diversen Wünschen von Erwachsenen nachkommen. Mit den kippenden, verwirrten, zutiefst befremdlichen Blicken ist es dabei in Sandra Wollners "The Trouble With Being Born", einer Art "Blade Runner" für die österreichische Suburbia, noch lang nicht getan. Das Highlight aus der Encounters-Reihe zeigt eine Filmemacherin, die schon mit ihrem zweiten Langfilm in viel riskantere Gefilde vorstößt, als es der Großteil des deutschsprachigen Filmschaffens vermag. Hannah Pilarczyk

Éléonore Loiselle und Kelly Dépeault in "La déesse des mouches à feu"
Foto: Laurent Guerin/ Laurent Guérin/ BerlinaleDie Eltern prügeln sich schon in der Anfangssequenz, bis sich ein Auto überschlägt, kein Wunder, dass das Kind bald Drogen nimmt. Catherine bleibt beim Coming-of-Age auf Meskalin hängen, das Leben ist schön und intensiv, die Eltern raffen nichts und als dann doch, ist es der Tochter längst egal. Die kanadische Regisseurin Anaïs Barbeau-Lavalette hat mit einem unglaublichen Cast von Jugendlichen den gleichnamigen Roman von Geneviève Pettersen adaptiert. "La déesse des mouches à feu" (Generation) ist im besten Sinne drüber, entschuldigt sich für nichts, verschreibt sich ganz dem Drogenrausch seiner Protagonistin, ist von jugendlichem Leichtsinn angetrieben und mit visuellem Überschaum durchzogen. Die Moralkeule wird eingetauscht gegen eine Ethik des autonomen Erwachsenwerdens: Am Ende ist Catherine reifer als die kaputten Eltern und fürs Leben gerüstet. Till Kadritzke

Adolf Beutler in "Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist"
Foto: Sabine Herpich/ BerlinaleEine Künstlerin arbeitet an einem Modell des Bode-Museums als "Skulpturen-Knast"; bei einer Perfomance mit Dartpfeilen sollen ihre Insassen - die Skulpturen – befreit werden. Die Entstehung des Objekts, das aus Styropor, Holz und Draht gefertigt ist, lässt sich neben einigen Arbeiten aus Papier in Sabine Herpichs Dokumentation beobachten. Schauplatz ist die Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin, ein Atelier für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung. "Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist" (Forum) folgt Stift, Schere, Hand und Gedanken bei der Herstellung von Kunst. Wobei der Film mit der gleichen Ruhe und Sorgfalt vorgeht wie die Porträtierten selbst. Herpichs Institutionen- und Künstler*innenporträt, das implizit den Dualismus von Mainstream und Outsider Art in Frage stellt, zeigt den künstlerischen Prozess als etwas Substantielles. Ihr Blick gilt den verschiedenen Weisen, der Welt, wie sie wahrgenommen und empfunden wird, eine künstlerische Form zu geben. Esther Buss

Salif Cissé in "A l'abordage"
Foto: Geko Films/ BerlinaleNur eine Nacht hat Félix mit Alma verbracht. Trotzdem entschließt er sich, ihr in den Familienurlaub hinterherzufahren, lässt sich dabei aber vorsorglich von einem Freund begleiten. In dem südfranzösischen Tal treffen die beiden Männer dann auf allerlei Menschen, die ebenfalls für ein paar Tage ein Stück weit aus ihrer Alltagsidentität herausgetreten sind. Dieses Netz an plötzlichen Bekanntschaften und unerwarteten Annäherungen entspinnt sich in Guillaume Bracs "A l'abordage" (Panorama) auf ganz zufällige, ungeordnete Art – und doch sind die einzelnen Szenen präzise durchgestaltet, mit einem klaren Gespür für den entscheidenden Moment und für die den Situationen innewohnende Komik. Der Film ist lebensnah und hochgradig künstlich zugleich – ein spielerischer Realismus, durch den auch die gänzlich unzynische Haltung des Films nie zur selbstgefälligen Pose wird. Philipp Schwarz

Elisabeth Moss (links) und Odessa Young in "Shirley"
Foto: LAMFWie Shirley Jackson zu Shirley Jackson geworden ist, erklärt Josephine Deckers Biopic "Shirley" (Encounters) nicht. Aber wie andere Frauen zu Shirley Jackson werden konnten, das schon. Denn die gefeierte Schriftstellerin, berühmt für verstörende Werke wie "The Lottery" oder "Wir haben immer schon im Schloss gelebt", wird hier unter Deckers Regie und in Elisabeth Moss' Spiel zu einer Art, auf die Welt zu blicken. Schön sieht die Welt aus dieser Perspektive nicht aus, die Männer in ihr sind allesamt Betrüger und die Frauen selbstzerstörerische Wracks. Doch diese Welt ist so überzeugend gezeichnet, dass man sich wie die junge Rose (Odessa Young), die mit ihrem Ehemann für ein knappes Jahr zu Untermietern bei Jackson und deren Gatten wird, immer ungehemmter in sie hineinsteigert, bis man nur noch durch Jacksons Augen sehen kann. Hannah Pilarczyk

Benjamin Radjaipour in "Futur Drei"
Foto: Edition Salzgeber/ Jünglinge Film/ BerlinaleFaraz Shariats Debütfilm "Futur Drei" (Panorama) kreist um den Deutsch-Iraner Parvis, der Sozialstunden in einer Asylunterkunft leisten muss und dort die aus dem Iran geflohenen Geschwister Amon und Banafshe kennenlernt. Es geht um schwules Begehren, um postmigrantische Identität, um deutsches Asylrecht und die Gewalt der Provinz, aber all diese Dinge bremsen die vorwärtspeitschende Erzählung nicht aus: Mitunter ist "Futur Drei” ein waschechtes Feel-Good-Movie an, eine Pop-Utopie. Denn das Kino ist hier nicht Rechtsanwalt, sondern wortwörtliche Projektion. Und vielleicht lässt sich die Gegenwart auch am besten festhalten, analysieren, kritisieren, wenn man ihr selbstbewusst den Spiegel einer besseren, queereren, migrantischeren Zukunft entgegenhält. Selbst wenn diese vorerst nur im Futur Drei formuliert werden kann, weil jederzeit die Abschiebung droht. Till Kadritzke

Cynthia Ebijie und Tem Ami-Williams in "Eyimofe"
Foto: Eyimofe/ BerlinaleDer erste Teil heißt "Spanien”: Mofe ist Elektroingenieur, prekär angestellt. Als er irgendwann einen Schlag an einem veralteten Schaltkasten abbekommt, hat er genug und macht sich selbstständig. Fortan hockt er auf den Straßen von Lagos und repariert Geräte. Der zweite Teil heißt "Italien”: Dort soll Rosas Tochter ihr Kind zur Welt bringen, wenn alles gut läuft. Rosa hetzt von einem Job zum nächsten, und wenn irgendwann der erste und einzige weiße Mann in "Eyimofe” (Forum) auftaucht und sie anflirtet, sieht Rosa eine Chance und macht sich unselbständig. Träume von Europa bilden den Horizont, die Ökonomie überformt alles, und die Regisseure Arie und Chuko Esiri verweigern sich einfachen Begriffen: Wunsch und Wirklichkeit, Freiheit und Zwang, Hoffnung und Verzweiflung, das sind keine Zustände, sondern die Pole der Achsen, auf denen sich Mofe und Rosa bewegen. Till Kadritzke

Julia Garner in "The Assistant"
Foto: Forensic Films/ BerlinaleEine junge Uniabsolventin hat eine Assistentenstelle in einer renommierten Filmproduktionsfirma ergattert, muss aber bald merken, dass die Firma neben der eigentlichen Produktionsarbeit ganz wesentlich darauf ausgerichtet ist, ihrem Chef immer neue junge Frauen zuzuspielen. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Weinstein-Skandal stellt Kitty Green nicht die Momente des offenen Machtmissbrauchs in den Vordergrund, sondern all die kleinen Gesten, durch die ein hierarchisches System am Laufen gehalten wird. Einschüchterung geschieht hier durch den freundlichen Ratschlag, seine E-Mails doch etwas unterwürfiger zu formulieren, Ausgrenzung durch den betont pflichtschuldigen Tonfall, in dem eine Einladung zu einem Feierabendbier ausgesprochen wird. "The Assistant" (Panorama) ist ein Film über jene Alltagsgrausamkeiten, die denen, die sie begehen, doch nie den Schlaf rauben. Philipp Schwarz

Michelangelo Fortuzzi und Marie Tragousti in "Nackte Tiere"
Jugendliche Körper umkreisen und umarmen sich. Sie verknäulen und schlagen sich. Es gibt blaue Flecken und blutende Nasen, aber das ist nicht weiter schlimm. Was das Coming-of-Age-Kino üblicherweise als bestimmendes Lebensgefühl heranwachsender Menschen beschreibt - das In-der-Schwebe-Sein –, weicht in Melanie Waeldes überraschendem Debütfilm einer eruptiven Körperlichkeit, die jenseits von Gewalt liegt. Im engen Bildformat – 4:3 – ist wenig Platz für die fünf Protagnost*innen, Heranwachsende in der Brandenburgischen Provinz, kurz vor dem Abitur. Trotzdem ist da unendlich viel Freiheit und Raum: etwa dafür, die Beziehungen der Figuren unbestimmt zu halten und die Beschreibung sozialer und familiärer Milieus an die Erzählränder zu verlagern. Toll auch das Ensemble, allen voran die junge Schauspielerin Marie Tragousti. Esther Buss

O. C. Ukeje in "Cidade pássaro"
Foto: Primo Filmes/ Berlinale"Shine Your Eyes", der englische Titel von Matias Marianis Debütfilm "Cidade pássaro" (Panorama), ist als Aufforderung an seine Hauptfigur gedacht: Der Nigerianer Amadi (O. C. Ukeje) soll sich endlich der Realität stellen, dass sein Bruder "es" in São Paulo nicht geschafft hat. Er ist nicht, wie er es der Familie in der Heimat geschrieben hat, Professor geworden, er hat noch nicht einmal eine einfache Arbeit, geschweige denn eine Wohnung. Er ist einfach verschwunden. Auf der Suche findet Amadi - und mit ihm das Publikum - nicht den Bruder, aber etwas anderes: eine Stadt, eine Heimat und damit womöglich eine Utopie. Denn so dicht, wie Mariani Stadtbilder und Lebensläufe verflechtet, fügt sich São Paulo zu einem einzigartigen Sehnsuchtsort zusammen. Zumindest für die Länge eines Films. Hannah Pilarczyk

"Vil, Má" von Gustavo Vinagre
Foto: Gustavo Vinagre/ BerlinaleEin Film als gespiegelte Anordnung: In Gustavo Vinagres Doppelfrauenporträt "Vil, Má" (Forum) über eine brasilianische Schriftstellerin sadomasochistischer Literatur und die dahinter verborgene "bürgerliche" Frau vermischen sich Aspekte der Lebensgeschichte mit (literarischen) erotischen Episoden. Die verschlungenen Erzählungen der über 70-jährigen Wilma Azevedo haben bei aller konkreten Bildhaftigkeit etwas Verführerisches, Phantasmatisches. Nahezu ausschließlich über die Sprache entsteht ein kreatives Reich aus Träumen, Sehnsüchten und Fetischen, formen sich Bilder über Körperteile und Empfindungen, über Werkzeuge und ihren Gebrauch. Dass die so starke wie furchtlose Frau das mühsam erarbeitete Produkt eines langwierigen Emanzipationsprozesses sein könnte, deutet sich im zweiten Teil an. Ganz sicher kann man sich über die Spaltung von Wilma/Elvira aber bis zuletzt nicht sein. Esther Buss

Elio Germano in "Volevo nascondermi"
Foto: Chico De Luigi/ BerlinaleWie wird ein großer Künstler ein großer Künstler? Immer wieder stellen sich Filmporträts diese Frage und beantworten sie auch noch - meist durch Ausstellung einer psychologische Verhärtung, bevorzugt aus der Kindheit. Giorgio Dirittis Annäherung an das Leben des Malers Antonio "Toni" Ligabue (1899-1965), einem womöglich geistig behinderten Ausnahmekünstler an der Schnittstelle zwischen Expressionismus und naiver Kunst, folgt keiner Frage und gibt keine Antworten. In "Volevo nascondermi" (Wettbewerb) montiert Diritti schlicht Szenen aus Ligabues Leben, zeigt Erniedrigung, Entbehrung, Freundschaft, Anerkennung, Erfolg, Krankheit, Jähzorn, Freude. Elio Germano verkörpert Ligabue mit wilder Dringlichkeit, muss sich aber in keiner Naheinstellung in die Seele schauen lassen. Auch so beschützt Diritti die Integrität seiner Figur, die er an keiner Stelle zur Interpretation freigibt. Am Ende fügt sich ein Bild zusammen, das so brüchig, grausam, triumphal und zärtlich wie das Leben selbst ist. Hannah Pilarczyk

"Maggie's Farm"
Foto: James Benning/ neugerriemschneider, Berlin/ BerlinaleMan muss nicht wissen, dass das California Institute of the Arts, das der US-amerikanische Avantgardefilmemacher James Benning in "Maggie’s Farm" (Forum) filmisch erkundet, von Walt und Roy Disney gegründet wurde. Komisch ist es aber schon, wenn einer mythologischen Kunstinstitution in engen statischen Einstellungen von schäbigen Fußböden, Müllcontainern und einem zerbeulten Trinkbrunnen ein wenig die Luft abgedrückt wird. Benning, der selbst am CalArts lehrt, interessiert sich für die missachteten Winkel und Details des öffentlichen Gebäudes, die dennoch unverzichtbar dazugehören - wie auch für den charakteristischen "Gebäude-Sound": surrende Halogenleuchten, Türen, die im dumpfen Klang zufallen, Aufzuggeräusche. "Maggies’s Farm" ist wunderlich und auch ein wenig klaustrophobisch. Zwischen den Bildern lauert Suspense. Die Sprache des Experimentalfilms trifft auf die Blickperspektiven des "true crime". Esther Buss

"Bloody Nose, Empty Pockets"
Foto: Department of Motion Pictures/ BerlinaleNach und nach trudeln die Stammgäste in der "Roaring 20s”-Bar ein, ein letztes Mal. Die Bar wird schließen, Gentrifidingsbums, also noch einmal zusammen abhängen, trinken, eintauchen in eine Welt aus Tresen, Jukebox und Alkohol. Während der Abend so langsam in die Gänge kommt, verändert sich auch der Blick auf diesen ziemlich erstaunlichen Film der Brüder Bill und Turner Ross (Panoram). Da scheint eine Fiktion aus der Dokumentation zu erwachsen und zugleich diese Einteilung auszulachen. Kleine Dramen, Biografien, Verbrüderungen und Fastschlägereien fängt die Kamera wie beiläufig ein, und wenn die mit Alkohol statt mit Zugehörigkeit vernähte Gemeinschaft irgendwann mit Wunderkerzen nach draußen geht, dann wird die Ode an die Heimat namens Theke zu ihrem verdienten Finale geführt. Erst wenn die Sonne aufgeht, ist alles vorbei: Nie mehr Las Vegas. Till Kadritzke

"Tipografic majuscul"
Foto: Silviu Ghetie/ BerlinaleAnfang der Achtzigerjahre schrieb ein Schüler im Rumänien Ceaușescus regierungskritische Parolen an eine Reihe von Häuserwänden. Die Ermittlungen, die dieser Akt des Widerstands nach sich zog, hat Regisseurin Gianina Cărbunariu zu einem Theaterstück verarbeitet - und dieses wiederum reichert Radu Jude in "Uppercase Print" (Forum) mit Ausschnitten aus dem damaligen rumänischen Fernsehen an. Folkloristische Musiksendungen wechseln sich ab mit Aufrufen zur Selbstoptimierung und mit der öffentlichen Anprangerung von Ehescheidung oder Landesflucht. Das hyperaktive Massenmedium wird zum Spiegelbild eines auf ständige Eskalation ausgerichteten Überwachungsapparats. In dem Wüten dieser beiden Wirbelstürme wird individueller Widerstand nicht so sehr gebrochen, als durch ständige, mechanische Bearbeitung plattgewalkt. Philipp Schwarz
Nachts schleichen sich die Halunken "Cookie” Figowitz (John Magaro) und King Lu (Orion Lee) an und klauen sich ein wenig von ihrer Milch. Tagsüber verkaufen sie Krapfen, die sie mit der Milch hergestellt haben, auf dem kleinen Markt der angrenzenden Siedlung. Für die fettgebackenen Köstlichkeiten geben die Goldgräber alles an Geldwertem her, was sich in ihren ausgebeulten Hosentaschen findet. "Schmeckt wie London!", ist sogar der Chief Factor (Toby Jones), der leitende Kommissionär der Region und Besitzer der Kuh, verzückt. Unzählige Krapfen und einen Clafoutis später kommt er den beiden Betrügern jedoch auf die Spur.
Ein Euter als ursprüngliche Akkumulation
Wie es Cookie und King Lu nach Oregon verschlagen hat, erzählt Reichardt - wie gewohnt auf einer Vorlage von Jon Raymond basierend – in einem langen Prolog. Auf den ersten Blick fällt der zu ausführlich aus, gleichzeitig ist diese Detailliertheit unabdingbar für ihre Erzählung: In dem historischen Moment, den sie in "First Cow" einfängt, haben nämlich nur die Menschen Geschichten, der Flecken Erde, den sie besiedeln, tut es noch nicht. "Endlich sind wir mal vor der Zeit angekommen", sagt King Lu an einer Stelle.
Aber genau das ist eine Illusion, wie Reichardt zeigt. Europas feudale Hierarchien und Ausbeutungsverhältnisse sind mit den Siedlern gen Westen gezogen. Sie drücken sich nur in sehr amerikanischen Zeichen aus, zum Beispiel in Form einer Kuh, deren Besitz darüber entscheidet, ob einer herrschen kann oder betrügen muss. Ein Euter als ursprüngliche Akkumulation: So wie in "First Cow" wurde die große amerikanische Frontier-Erzählung noch nicht aufs Häuslich-Unheroische heruntergebrochen.

Marina Palii und Agathe Bosch in "Malmkrog"
Foto: Mandragora/ BerlinaleWas die gesellschaftlichen Schichtungen des 19. Jahrhunderts mit der Gegenwart zu tun haben und wie sich das in einfachsten Verrichtungen, beim Mahlen von Kaffee etwa, zeigt, fächern "Malmkrog" und "Todos os mortos" noch genauer auf. Mit "Malmkrog" hat Cristi Puiu die neue Berlinale-Reihe Encounters eröffnet und deren Zuschnitt sofort klar gemacht: Während an Wettbewerbsfilme ein gewisser Repräsentationsanspruch besteht - sie müssen für eine Art von Autorenhandschrift stehen, für ein Thema oder ein Länderkino -, sind die Beiträge in Encounters von solchen Konventionen entbunden. Sie erzählen frei, manchmal frei drehend.
"Malmkrog" weist den kompromisslosen Weg: Über drei Stunden hinweg lässt Puiu, eigentlich der Komödiant des neuen rumänischen Kinos, eine aristokratische Gesellschaft auf einem Anwesen im winterlichen Rumänien monologisieren über – hier passt es wirklich – Gott und die Welt. Ins Gespräch kommt hier keiner, die Gäste unter sich nicht und schon gar nicht die Gäste mit den Bediensteten.
Die Herrschaften werden gewaschen, wenn sie pflegebedürftig sind, und bedient, wenn sie hungrig sind. Die Welt, die sie sich so wortreich zu erschließen versuchen, wird für sie jedoch nicht handhabbar. Als einmal laute Musik aus den oberen Geschossen ertönt, ist die Gesellschaft verblüfft ob des Lärms. Die Herrin des Hauses läutet ein Glöckchen, doch niemand der Bediensteten kommt. Statt zu gucken, was vor sich geht, bleiben die Gäste sitzen. Das Glöckchen wird noch mal geläutet. Und noch mal.

Carolina Bianchi (von links), Thaia Perez und Clarissa Kiste in "Todos os mortos"
Foto: Hélène Louvart/ Dezenove Som e Imagens/ BerlinaleVitaler und zugänglicher – und damit genau richtig im Wettbewerb – variiert der brasilianische Film "Todos os mortos" (All die Toten) das Thema einer Aristokratie, die sich ihrer gefängnishaften Selbstbezüglichkeit nicht bewusst ist. Von ihrer Kaffeeplantage ins São Paulo des Jahres 1899 haben die Regisseure Marco Dutra ("As boas maneiras") und Caetano Gotardo die Frauen der Familie Soares getrieben. Vor zehn Jahren wurde die Sklaverei im Land abgeschafft, nun steht die Unabhängigkeit bevor, doch die Soares erschüttert viel mehr, dass ihre alte Haushälterin, ehedem Sklavin, gestorben ist und nun niemand mehr ihren Kaffee von Hand röstet und mahlt.
Die alternde Matriarchin hat sich schon halb von ihrem Leben und ihrem Land abgewendet. Ihre ältere Tochter Maria, eine Nonne, mischt sich dagegen noch vehement ein, bevorzugt in die Angelegenheiten ihrer jüngeren Schwester Ana. Die zarte Frau macht am Klavier eine elegante Figur – Ausdruck von Anmut und Kultur auf den ersten Blick, doch in ihr steckt der größte Rassismus und die größte Gewalt. "Jeder weiße Bauarbeiter küsst besser als du", lässt sie ihren mixed race Galan nach dem ersten Kuss wissen.
Ein Haushalt als Zeitkapsel und drei Frauen als Platzhalterinnen ausgedienter Autoritäten: "Todos os mortos" ist klar in seinen Symboliken, aber das – auch dank der Kamera von Hélène Louvart – mit großer Eleganz. Am Ende verlässt Ana das Haus und tritt ins São Paulo der Gegenwart ein. Wahrscheinlich kann man ihr gerade jetzt auf der Straße begegnen.