Erotik-Drama "Shame" Eine Last, diese Lust

Erotik-Drama "Shame": Eine Last, diese Lust
Foto: PROKINOIn der Kunstwelt ist er schon lange ein Star. Steve McQueen, 43 Jahre, hat mit Video-Stummfilmen angefangen und für seine oft beklemmenden Werke unter anderem den Turner Preis gewonnen. 2008 drehte der britische Künstler seinen ersten Kinofilm. Michael Fassbender spielte darin einen IRA-Kämpfer im Gefängnis. Der Film hieß "Hunger" und war eine Zumutung: an Gewalt, Gemeinheit und strengen, großartigen Bildern.
McQueens zweiter Kinofilm, in dem wieder Fassbender die Hauptrolle spielt, handelt vom Sexhunger. Brandon, wie Fassbender im Film "Shame" heißt, ist ein erfolgreicher New Yorker Büromensch und hat immer nur den nächsten Fick, den nächsten Porno, die nächste Triebabfuhr im Sinn.
Der Film "Shame" belegt: Die Kunst des Kinos besteht (wie jede große Kunst) unter anderem darin, uns miese Typen begreiflich und sympathisch und bedenkenswert zu machen. Brandon ist ein Irrer, der Frauen nur als Objekte seiner Dauergeilheit betrachten kann - und doch fordert "Shame" uns auf, uns vor fixen moralischen Urteilen zu hüten.

Es ist das Geschäft der Filmemacher (wie aller Künstler), den Zuschauern einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie konfrontiert werden mit Gelüsten und Ängsten, mit Phantasien und Obsessionen, die möglicherweise ihre eigenen sind. So grotesk oder böse oder verführerisch sie auch aussehen. Und wenn die Filmemacher (und die Kritiker) schlau sind, dann überlassen sie es den Zuschauern selber, sich moralisch einen Reim auf die eigenen Träume und Alpträume zu machen.
Immer sofort zum Vollzug
Vermutlich ist es eine Schwäche des oft überwältigend schönen Kinofilms "Shame", schon im Titel anzudeuten, dass wir es hier mit Schmach und Scham und Schande zu tun haben. Dass McQueen uns einen Helden vorführt, der zwar schön und gut gebaut und von den Frauen begehrt ist, der aber in jeder Minute absolut unentspannt und von dunklen Dämonen getrieben dreinschaut.
Der Mann Brandon in "Shame" ist ein brutal gut aussehender Typ, er hat einen gutbezahlten Job in einem Büro voller junger Erfolgsmenschen, von dem wir nicht erfahren, worin er besteht. Er ist teuer angezogen, bewohnt ein elegantes Apartment zwischen Wolkenkratzern und betrachtet Sex als zentralen Lebensinhalt. Er onaniert auf der Bürotoilette, er bestellt sich Huren nach Hause, er vögelt mit einer Barbekanntschaft irgendwo im Freien. Stets will er sofort zum Vollzug kommen. Der Regisseur McQueen allerdings lässt nie einen Zweifel daran, dass die Gier dem Helden Brandon die Luft zum Leben abschnürt.
Zweimal immerhin zeigt Brandon Gefühle. In einer langen, stummen Szene flirtet er in der New Yorker U-Bahn mit einer hübschen Frau, die einen Ehering trägt, er verfolgt sie auf dem Weg ins Freie, verliert sie aus den Augen und gerät darüber so aus der Fassung, als habe er plötzlich seine Manieren und seinen Verstand verloren. Einige Abende später sieht er seiner Schwester, einer von Carey Mulligan hübsch kaputt gespielten Herumtreiberin, dabei zu, wie sie in einer Bar den Song "New York, New York" singt; und plötzlich bricht Brandon in Tränen aus.
Kein Platz für Selbstbesinnung
Es ist ein merkwürdiger Zwang, der den Helden von "Shame" zum Porno-Autisten hat werden lassen. Nach außen hin scheint Brandon perfekt zu funktionieren, in seinem Inneren aber ist er so vollkommen von seinen Sexualphantasien okkupiert, dass kein Platz ist für Mitgefühl und Selbstbesinnung, vor allem aber für auch nur den mindesten Spaß am eigenen Treiben. Selbst im Bett nimmt sein durchtrainierter Körper nur Posen ein, die Brandon für ästhetisch hält.
"Shame" ist ein Film, der einem echt die Lust am sogenannten Geschlechtsverkehr vergällen kann. Die Sexszenen in diesem Film sind mit großer Kunst arrangiert - und mit einer Kälte inszeniert, die einen schaudern lässt. Man sieht Schenkel, Brüste, Hände, Geschlechtsteile, als seien sie auf beunruhigende Art losgelöst von den Menschen, denen sie gehören. Die Unerbittlichkeit, mit der "Shame" vom Unglück seines Helden erzählt, von seinem Versuch, schließlich auf einer Odyssee durch die New Yorker Nacht irgendeine hitzige Leidenschaft zu finden, gibt diesem Film seine Kraft. Sie ist aber auch eine Qual.
Michael Fassbender hat für "Shame" im vergangenen Herbst bei den Filmfestspielen in Venedig den Goldenen Löwen für die beste Darstellerleistung gewonnen - völlig zu Recht: So emotional zubetoniert sein Held auch sein mag, so eindringlich vermittelt Fassbender den Kinozuschauern den Schmerz und die Einsamkeit seiner Figur.
Trotz seiner Porno-Manie hat dieser Brandon verklemmte Züge. Die Nacktheit seiner Schwester zum Beispiel scheint ihn grässlich zu verschrecken, in seinem Gesicht lauert eine komische Verzweiflung. Und die Sätze, die er in diesem wirklich finsteren und auf eine geradezu brutale Weise ergreifenden Film sagt, sind allesamt denkbar knapp und schroff - und immer absolut nichtssagend. In Wahrheit ist Brandons Leben ein Stummfilm.