Erotik-Drama "Wolke 9" Fellatio vor dem Fernsehtischchen

Graue Hüpfer: In "Wolke 9" erzählt Andreas Dresen davon, wie nackte welke Körper im Licht sommerlicher Nachmittage erneut erblühen. Ein kleiner und sehr konkreter Film über Lust und Liebeschaos im fortgeschrittenen Alter.

Die Liebe kommt meist unangekündigt, manchmal steht sie sogar ohne Vorwarnung vor der eigenen Wohnungstür. So wie Inge (Ursula Werner), die Karl (Horst Westphal) spontan seine umgenähte Hose vorbeibringt, dann aber bald ohne große Worte mit ihm glücklich schnaubend auf der beigen Auslegware liegt.

Vielleicht ist Andreas Dresen mit den ersten Bildern der schönste Anfang eines Liebesfilms überhaupt geglückt. Denn er folgt in "Wolke 9" geradezu traumwandlerisch sicher den wortlosen Kraftströmen körperlicher Anziehungskraft. Auf Erklärungen und Belehrungen wird dankenswerterweise verzichtet.

Aber was gäbe es hier auch schon zu erklären oder zu belehren? Ob es sich beim ersten Schäferstündchen in "Wolke 9" um pure egoistische Freude am Sex oder um aufkeimende aufrichtige Liebe handelt, lässt sich beim besten Willen erst mal nicht sagen. Das wissen die beiden Helden wohl selbst noch nicht so recht.

Dafür zeigt Regisseur Dresen mit seinen so intimen wie präzisen Digitalvideobildern, wie im gleißenden Gegenlicht Körper und Gesichter der Figuren wegbrennen, wie seine Helden im Rausch aus ihrem Alltag davonfliegen.

Doch je höher man sich aus seinem Alltag erhebt, desto heftiger schlägt man eben auch wieder in ihm auf – das ist nun mal die schmerzliche Dynamik klassischer boy-meets-girl-stories. Und wenn der Junge und das Mädchen im fortgeschrittenen Alter sind, tun die Knochen bei Aufstieg und Absturz natürlich umso mehr weh.

Denn Inge, die da am Anfang wie ein verliebter Teen fiebernd die Treppe zu Karls Wohnung hoch tapst, ist bereits Mitte 60 und seit mehr als 30 Jahren recht zufrieden mit Werner (Horst Rehberg) liiert. Aber wo Zwei sich finden, bleibt nun mal meist ein Dritter zurück. Und das ist in diesem Fall eben Hobby-Eisenbahner Werner, der für sich und seine Frau am Wochenende hübsche beschiente Ausflugsrouten zusammenstellt, sich jedoch leider kaum vorstellen kann, ins ungeforderte Single-Glück zu dampfen.

Ein über Strecken rauschhafter Film ist Andreas Dresen mit "Wolke 9" geglückt - die Statistik hat er dazu nicht geschönt. Die nackten welken Körper, hier blühen sie auf im freundlichen Licht sommerlicher Nachmittage. Nichtsdestotrotz werden auch rigoros die Konsequenzen des späten Glücks aufgezeigt. Erst weist der betrogene Werner in gerechtem Zorn seine Frau zurecht, später verabschiedet er sich vom Leben. Denn ganz ehrlich: Wie viel Zeit bleibt einem Jungen jenseits der 70, um noch einmal die wahre Liebe zu finden?

Sechs Jahre nach seinem Imbiss-Drama "Halbe Treppe" lotet Dresen mit "Wolke 9" ein weiteres Mal mit kleinem Team und Improvisationslust Glück und Leid eines so im Kino noch nicht gezeigten Mikrokosmos' aus. Hormongestöber im Herbst: Das Thema "Sex im Alter" hängt schwer über diesem trotzigen, kleinen, zerbrechlichen Film - spekulative Gelüste werden indes nicht befriedigt.

Vielmehr gelingt es Dresen, konkrete Bilder für ein Sujet zu finden, das zwar im Zuge der allerorten debattierten alternden deutschen Gesellschaft nicht ganz neu ist, für die es aber jenseits von einladenden Impressionen für Krankenkassenprospekte kaum Bilder gibt. "Wolke 9" ist keine demografische Liebelei, die in geschmackvollen Sepia-Tönen von Opas und Omas letzten Zärtlichkeiten erzählt.

Stattdessen treiben es die Liebenden im Schilf an einem See oder geben sich der Fellatio vor dem Fernsehtischchen hin, und der Regisseur filmt dabei in freudiger Erregung jede ihrer Schweißperlen ab. Oder er zeigt die grauen Hüpfer, wie sie sich nette Ferkeleien erzählen, um im Bett kurze körperliche Schwächeanfälle zu überbrücken.

Hier geht es eben um mehr als die üblichen Lebensabendlügen. Nämlich um die wunderschöne und grausame Macht des Begehrens - die sich in so konkreten wie unaufdringlichen Bildern Bahn bricht. Dabei legt der Mittvierziger Dresen durchaus eine Art anthropologisches Interesse an den Tag, entwickelte jedoch im improvisierten Zusammenspiel mit seinen reifen Darstellern eine unerhörte Dringlichkeit.

So gesehen schleudert dieses unaufdringliche Erotikdrama eine frohe Botschaft in die alternde deutsche Gesellschaft hinaus: Mag die Rente auch nicht sicher sein - auf die chaotische Kraft der Libido bleibt Verlass.

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