
Filmfest München: Grenzgänger in der Finsterworld
Kinonachwuchs Ich fühl mich deutscher Film
Freundlich war der Applaus, die Kommentare danach aber schon weniger: "Langweilig" war noch das positivste, was an Urteilen über "Exit Marrakech" (Kinostart: 24.10.) gefällt wurde, Caroline Links neuen Film, der das Münchner Filmfest eröffnete. Mit seinen nachlässig gezeichneten Figuren und vorhersehbaren Eskalationen kam das Vater-Sohn-Drama vor der Kulisse Marokkos bei den wenigsten Premierenzuschauern gut an. Sollte das ein Vorgeschmack sein auf die insgesamt 29 Fernseh- und Kinofilme aus Deutschland, die das zweitgrößte Festival des Landes nach der Berlinale präsentiert?
Man kann beherzt Entwarnung geben: Was noch bis Sonntag an deutschen Filmen zu sehen ist, bietet eine erfreuliche Fülle an aufregenden Bildern, Geschichten und Erzählstimmen. Allein die Euphorie, mit der die Uraufführung von Axel Ranischs Coming-of-Age-Film "Ich fühl mich Disco" (noch kein Starttermin) am Sonntagabend gefeiert wurde, setzte einen merklichen Kontrapunkt zu der Betulichkeit von Links Werk. Vor kaum mehr als einem halben Jahr erst lief Ranischs 60-Minüter "Dicke Mädchen" in den deutschen Kinos, nach dem Überraschungserfolg auf diversen Festivals ging es mit dem ersten Langspielfilm dann wohl etwas schneller.
Wieder mit dem grandiosen Heiko Pinkowski in der Hauptrolle stellt ihm Ranisch diesmal den nicht minder tollen Debütanten Frithjof Gawenda als Sohn Flori zur Seite. Eigentlich kann der Vater mit seinem pummeligen Sohn, der den Schlagersänger Christian Steiffen (laut und schnell aussprechen) verehrt und zu dessen Songs am liebsten mit der Mutter auf dem Sofa herumspringt, nichts anfangen. Doch dann ereilt die Kleinfamilie ein Schicksalschlag, der Vater und Sohn einander notgedrungen näher bringt - und Flori letztlich sogar dazu ermutigt, seine ersten homosexuellen Erfahrungen zu sammeln.
Was tun ohne Hauptdarstellerin?
Die erzählerischen Motive und Pointen, derer sich der Film bedient, mögen zu oft die naheliegendsten sein (ostige Plattenbau-Szenerie, füllige Teenager, Bad-Taste-Schlager als emotionaler Lockermacher). Was von "Ich fühl mich Disco" in Erinnerung bleibt, sind aber das Herz und die Wucht, mit denen Ranisch von Floris sanftem Erblühen erzählt.
Dass es in Frauke Finsterwalders Spielfilmdebüt "Finsterworld" (Kinostart: 17.10.) deutlich weniger knallig und gut gelaunt zugeht als bei Festivalliebling Ranisch, deutet schon der Titel an. Ein Blick auf ihren Co-Autor Christian Kracht sorgt dann für letzte Sicherheit, dass einen hier eine Parallelwelt erwartet, die ganz auf verstörend dunklen Zauber setzt. Am ehesten lässt sich das in seinem stetigen Schwanken zwischen Greifbarkeit und Groteske noch mit Leif Randts Roman "Schimmernder Dunst über Coby County" vergleichen - ergänzt durch das wohl bestechendste Ensemble des gesamten Filmfests (u.a. Michael Maertens, Sandra Hüller und Corinna Harfouch).
Finsterwalders Willen zur Künstlichkeit spiegelt auch Lola Randl in ihrem zweiten Spielfilm "Die Erfindung der Liebe" (noch ohne Starttermin). Als manieristische Parabel über die Liebe angelegt, ereilt Randl 2011 mitten während der Dreharbeiten die Katastrophe: Damals starb ihre Hauptdarstellerin Maria Kwiatkowsky. Über ein Jahr bleibt das Material der bereits abgeschlossenen 23 Drehtage liegen. Dann beginnt Randl, die Geschichte um den Verlust der Hauptdarstellerin und die Verflechtungen von Realität und Fiktion ganz neu zu gruppieren.
In der fertiggestellten Fassung stehen nun fiktive Dreharbeiten zu einem Film, dessen Hauptdarstellerin gestorben ist, gleichberechtigt neben der ursprünglichen Liebesgeschichte. Das führt zu einigen tollen Kunstgriffen: Eine Praktikantin soll in dem Film im Film zum Beispiel Kwiatkowsky per Motion Capture ersetzen - eine Charlie-Kaufman-würdige Idee, die gleichermaßen amüsiert wie den großen Verlust, den Kwiatkowskys Tod mit nur 26 Jahren bedeutete, vor Augen führt. Dennoch steht wie bei Kaufmans Filmen auch bei "Die Erfindung der Liebe" zum Schluss die Frage im Raum, ob einem der Film mehr als nur Freude und Respekt vor gelungenem erzählerischen Handwerk abverlangen kann.
Dezenter Haarausfall
Wo Randl das Gewicht auf narrative Finesse setzt, verschieben es Regisseurin Brigitte Maria Bertele und Autorin Hannah Hollinger in "Grenzgang" (Ausstrahlung am 27.11. in der ARD) in Richtung Emotionen, ohne auf anspruchsvolles Erzählen zu verzichten. Die Verfilmung von Stephan Thomes gleichnamigen Bestseller gehört zu den TV-Filmen, die auf dem Münchner Filmfest gleichberechtigt mit den deutschen Kinoproduktionen laufen. Das ist nicht nur eine Anerkennung der oft identischen Geldgeber (den öffentlich-rechtlichen Sendern), sondern auch der meist unterschiedslosen Ästhetiken und Darsteller. Kein großer Zufall also, wenn Kino- und Theaterstar Lars Eidinger ("Was bleibt", "Alle anderen") jetzt in gleich drei TV-Filmen in München zu sehen ist.
In "Grenzgang" bekommt Eidinger nun die Möglichkeit, sowohl seinen jugendlichen Charme als auch seinen sich dezent andeutenden Haarausfall bestens zur Geltung zu bringen. Als Philosoph an der Uni in Berlin gescheitert, kehrt sein Mittdreißiger Thomas Weidmann in die hessische Provinz zurück, um im alten Heimatort Gymnasiallehrer zu werden. Dort trifft er auf die alleinerziehende Kerstin Werner (Claudia Michaelsen), die wie er einen Lebensentwurf aufgeben musste, aber sich das Wünschen und Begehren nicht nehmen lassen will. Doch Bewegung, so scheint es, kommt in das Leben von Thomas und Kerstin nur, wenn alle sieben Jahre das ausgelassene Volksfest ihres Heimatortes ansteht - der titelgebende Grenzgang.
Es ist eine wunderbar ungelenkte Chemie, die zwischen Eidingers und Michaelsens Figur herrscht. So recht passen sie nicht zueinander, aber ist zueinanderpassen nicht auch eine Frage des Wollens? Ist der, der sich bewusst für Romantik entscheidet, nicht letztlich der größere Romantiker als der, der sie ungeplant erlebt?
Vielleicht muss man es auch genauso mit den deutschen Filmen auf dem Münchner Filmfest halten. Man muss schon den Wunsch haben, das Besondere in einem Programm zu finden, das auch Dutzendware wie die unausweichlichen Regionalkrimis bietet. Dann aber findet man zumindest das mittelgroße Glück.
Das Filmfest München läuft noch bis zum 6. Juli. Programm unter http://www.filmfest-muenchen.de/de/default.aspx