Filmkritik Glamour ist Macht
Der Laden ist längst geschlossen, und seine gute Zeit, Ende der siebziger Jahre, dauerte gerade einmal 33 Monate. Aber das reichte, um ein vergessenes Fernsehstudio in Midtown Manhattan in die bis heute berühmteste Adresse der Welt zu verwandeln, wenn es um Nacht, Glamour und Ausschweifungen aller Art geht.
Vorher war die Pille, danach kamen Aids und Techno. Dazwischen war das Studio 54 ein Ort, wo der Jet-set mit Verkäufern und Automechanikern feierte, ein Mond mit einem Kokain-Löffel über der Tanzfläche hing und vor allem eine Devise zu gelten schien: Sex ist gut für dich. Nur noch mehr Sex ist besser.
"Ich habe mit meinen Kindern zu Abend gegessen", sagt die Designerin Diane von Fürstenberg, "habe meine Cowboystiefel angezogen, meinen Mercedes genommen, in der Garage nebenan geparkt, bin für ein paar Stunden hineingegangen, habe jemanden gefunden und wieder raus."
Die Stars liebten vor allem den staubigen Keller, die Powerzentrale des Studios, über die der Gesellschaftsreporter Anthony Haden Guest schreibt: "Eine Euro-Trash-Prinzessin war auf ihr Bitten hin von einem der Barmänner in den Keller gebracht, mit einer Handschelle an eine Wasserpfeife gefesselt und gebumst worden, bis der Barman dachte: 'Mein Gott, ich muß ja zurück an die Bar.' Er vergaß die Sache und ließ sie da unten liegen."
Ebenso beliebt wie der Keller: die Damentoilette. "Männer und Frauen benutzten die Damentoilette", erinnert sich der Fotograf und Marlene-Dietrich-Freund, Peter Beard. "Männertoiletten sind ja überall auf der Welt in einem schrecklichen Zustand. Damentoiletten sind dagegen wie Wohnzimmer. Dort wurde geflirtet, wurden Geschäfte abgeschlossen, Kokslinien gezogen und Sex gemacht nach dem Motto: Fun ist fun. Nur schade, daß jetzt der Fun vorbei ist."
Gar nicht so beliebt dagegen das Seil aus rotem Samt vor der Eingangstür, mit dem der Clubbesitzer Steve Rubell Abend für Abend Tausende von Leuten auf der Straße terrorisierte einfach indem er sie nicht hereinließ in seinen Tempel. Rein sollten nur Leute dürfen, die nach "Fun" aussahen, und wer nicht nach "Fun" aussah, das wußte Rubell ganz genau: "Typen, die sagen: ,Ich bin Millionär aus Tuscon, Arizona'"; alleinstehende Mädchen, die nach Single Bars in der Upper East Side rochen; Typen, die Anzüge trugen wie der Diskokönig John Travolta; und natürlich mußten gelegentlich auch Hollywoodstars draußen bleiben wie Cher und Jack Nicholson.
Manchmal scheiterten auch Popstars wie die beiden Schwarzen Nile Rodgers und Bernard Edwards von der Gruppe "Chic". Die standen im Smoking in der Silvesternacht frierend vor dem Samtseil und bettelten einen von Rubells 19jährigen Türschergen an. Als sie ihm sagten, sie seien von der Gruppe "Chic" und stünden auf der Liste, sagte der nur: "Shit? Shit? Shit steht hier nicht drauf" und ging weg.
Studio 54, das waren Stars, Abenteurer, Exzesse und bizarre Geschichten alles also, was großes Hollywoodkino braucht, und so ist es kein Wunder, daß in den politisch korrekten, gesellschaftlich streng durchhierarchisierten neunziger Jahren die nostalgische Sehnsucht nach dem wilden Leben der Siebziger umgeht und diesen Sommer zwei Filme in den USA anliefen, die den schillernden Hedonismus des Diskozeitalters beschreiben wollten.
Und dabei nicht wirklich gut aussahen. Der eine mit dem Titel "The Last Days of Disco" von Whit Stillman benutzt die Tanzpaläste nur als Hintergrund für ein Kammerspiel zwischen ein paar vornehmen jungen Menschen aus der Upper East Side, die so eingebildet neunmalklug und nervig oberschlau sind, daß sie im Studio 54 vom Türsteher wieder nach Hause geschickt worden wären. Außerdem reden seine Schauspieler sehr viel ein Vorhaben, das in einer Disko sowieso nicht funktioniert, weil dort nur die Körper sprechen und der Diskjockey.
Der Harvard-gebildete Whit Stillman wäre gut beraten gewesen, bei seinen Recherchen die Erinnerungen des schon etwas erfahreneren Hollywoodregisseurs John Waters zu berücksichtigen. "Im Studio 54 konnte man jemanden ficken, kennenlernen wohl kaum. Denn um mich verlieben zu können, muß ich mich unterhalten können."
Eine weit größere Enttäuschung als der mit einem kleinen Budget gedrehte "The Last Days of Disco" ist der als "sexiest movie of this summer" angekündigte Film mit dem schlichten Titel "54". Das ehrgeizige Projekt der New Yorker Produktionsfirma Miramax, die mit ungewöhnlichen und mutigen Filmen wie "Pulp Fiction" in den neunziger Jahren insgesamt 30 Oscars gewonnen hat, sieht aus wie ein Vergnügungstempel, in dem nur noch einer tanzt: die Abrißbirne. "54" ist kein Film, sondern eine Ruine, und das ist kein Zufall, denn von dem, was der Regieneuling Mark Christopher, 37, gedreht hatte, ist nicht mehr viel übrig geblieben.
Christopher, ein Absolvent der New Yorker Columbia Film School, war ausgewählt worden, weil er mit zwei Kurzfilmen aus dem Homosexuellen-Milieu den Bossen von Miramax das Gefühl gegeben hatte, die Geschichten von Randgruppen und Subkulturen so erzählen zu können, daß deren Figuren auch in den Shoppingmall-Kinos des Mittleren Westens noch sympathisch erscheinen würden.
Der Plan ging nicht auf im bizarren moralischen Klima der neunziger Jahre, wo der Führer der westlichen Welt sich in einer Fernsehansprache bei der Nation für eine "unangemessene" Beziehung mit einer Untergebenen im Weißen Haus entschuldigt und danach mit Hund, Tochter und Ehefrau in die Ferien fährt. Denn auch wenn die meisten Amerikaner zu akzeptieren gelernt haben, daß ihr Anführer wie ein Lügner daherkommt, sind sie doch empört, sobald sich zwei Männer küssen.
Genau diese Prüderie wurde zu Christophers Problem. Der Regisseur hatte die Sittengeschichte des Studio 54 und der siebziger Jahre an zwei Männern und einem Mädchen entlangerzählt, die hinter der Bar arbeiten. Aber als die drei eine Ménage à trois beginnen, rasteten die Zuschauer bei den Testvorführungen derart aus, daß die Chefs von Miramax Angst bekamen.
Sie versuchten, den Mythos der Ausschweifung um das Studio 54 zu säubern, und schnitten dabei fast alles heraus, was die Partys damals wild und anders machte: Homosexualität, Drogen, Glamour, Spaß und den Aufstand gegen den Puritanismus.
Beim Versuch, die Aura des berühmtesten Tanztempels der Welt zu Geld zu machen, hat Miramax den Geist des Unternehmens verraten und aufgegeben, die Köpfe und Herzen der damals jungen Hipster zu erforschen. Es ist, als hätte Martin Scorsese aus seinem großen Las-Vegas-Drama "Casino" die Mafia herausgeschnitten. Oder wie bei Elvis in den fünfziger Jahren, als das Fernsehen beschloß, den Mann endlich zu filmen aber nur oberhalb der Hüfte. Es gehört eben mehr als nur Mut zum Geldmachen dazu, sich des Diskozeitalters anzunehmen man muß träumen können und sich verschwenden dazu, und einen Sinn haben für den Wahnsinn der Nacht.
Eigentlich muß man nur so sein wie Steve Rubell und Ian Schrager, das ungleiche Duo, welches das Studio 54 leitete. Rubell, der kleingewachsene, vor Charme und Aufputschmitteln vibrierende homosexuelle Zeremonienmeister, und Schrager, der schüchterne, gutaussehende, heterosexuelle Bursche im Hintergrund, der Pferde durch ihren Laden tanzen ließ.
Beide hatten sich in Brooklyn kennengelernt, wo sie in der jüdischen Mittelklasse aufwuchsen. Rubell sollte, so wollte es der Vater, Tennisprofi werden, was nicht klappte, weil der Junge auch auf dem Tennisplatz nicht mit dem Dauerreden aufhören wollte. Schrager wurde Anwalt, und bald vertrat er auch Rubell, der sich ein paar Steakhäuser in New Jersey zugelegt hatte, aber, wie ein Freund sagte, "nicht einmal in der Lage war, einen Hamburger zu braten".
Beide beteten den Glamour von Stars wie Bianca Jagger an, und beide hatten das Gefühl, daß in der Nacht ein Leben verborgen liegen könnte, mit dem sich Spaß und gute Geschäfte verbinden ließen schon deshalb, weil sie selbst manchmal im Dauerregen in langen Schlangen vor verschlossenen Clubtüren gestanden hatten, nur um dann, wenn sie endlich erlöst wurden, dem Türsteher auch noch einen Haufen Dollar in die Hand drücken zu dürfen.
Rubell und Schrager ließen sich im Frühjahr 1977 von einem Brooklyner Supermarktbesitzer 500 000 Dollar für den Umbau des Fernsehstudios geben, ließen Einladungskarten drucken, auf denen stand "dress spectacular", und durften am nächsten Tag in der Zeitung lesen, daß es Tausende waren, die da auf dem Bürgersteig vergeblich um Einlaß gebettelt hatten, und Frank Sinatra fluchend in seiner Limousine saß, weil er nicht einmal in die Nähe des Eingangs gelangt war.
Außer Rubell/Schrager, dem Diskogeist, war das größte Kapital des Ladens die Tatsache, daß sich Prominente darin sicher aufgehoben fühlten wie in einem Safe und sich trotzdem gehenlassen konnten. Die Gästeliste reichte von Leonard Bernstein über Lauren Bacall bis zu Elton John und Yves Saint Laurent nur beherrscht wurde der Club von Andy Warhol, Truman Capote, Liza Minelli und dem Modeschöpfer Halston: eine eingeschworene Clique ohne Gnade, die ähnlich Frank Sinatras "Rat pack" in den fünfziger Jahren einem Gesetz gehorchte: "Power is glamour. And glamour is power."
Manchmal hing Truman Capote sinnierend in der DJ-Box über der Tanzfläche und dachte an Tote. "Toulouse Lautrec, Baudelaire oder Oscar Wilde hätten diesen Club geliebt." Und weil das Studio 54 anfangs noch keine Schanklizenz hatte, trank er Dom Perignon aus der Papiertüte.
Mit dem Studio 54 wurden Prominente eine eigene Industrie. Die Leute begannen sich nach Klatsch und Fotos über die Stars zu sehnen, und Zeitschriften wie das "People Magazine" feierten darauf so spektakuläre Erfolge, daß selbst die altehrwürdige "New York Times" mit dem Titel "Us" eine ähnliche Zeitschrift herausbrachte.
Weil Steve Rubell vom Start weg sein bester Gast war, verließ er den Club meist als letzter, vollgepumpt mit Aufputschmitteln, Koks und Wodka ein Problem, lösbar in der Betty-Ford-Klinik. Viel schwerwiegender war da schon ein anderer Punkt: Die Tatsache nämlich, daß Steve Rubell in einem Interview erzählte, sie verdienten unglaubliche Mengen an Geld, "nur die Mafia macht mehr". Und andererseits zahlten sie im ersten Jahr gerade einmal 8000 Dollar Steuern. Was übrig war, lagerten sie, in schwarze Müllsäcke gepackt, im Keller des Studio 54 ein ohne daß jemand die Scheine vorher gezählt hätte.
Doch sehr bald war der Erfolg gewaltig. Filialen in Paris, London und München sollten eröffnet werden; Firmen bettelten um Lizenzen, um T-Shirts, Mützen und mehr mit dem "54"-Logo herstellen zu dürfen, aber Rubell weigerte sich sein Studio sollte nicht der Masse in die Hände fallen. Er bewirtete die Mutter von Jimmy Carter ("Warum tanzen all die Jungs zusammen. Es gibt hier doch so hübsche Mädchen?") und dessen Sohn. Was sollte schon passieren?
Doch Ende 1979 rollten die Limousinen der Steuerbehörde vor die Türen des Studios, Rubell und Schrager wanderten für 13 Monate ins Gefängnis, und als sie wieder herauskamen, war alles anders: Der Diskorausch war vorbei, Kokain eine gefährliche Droge, Sex eine Tätigkeit, die mit dem Tod bestraft werden konnte, und sie selbst Halbweltler mit einer Vorstrafe. Als sich Steve Rubell bei dem Dramatiker Tennessee Williams an den Tisch setzen wollte, verweigerte der ihm den Platz mit den Worten: "Für Knastbrüder habe ich nichts übrig." Modeschöpfer Calvin Klein und Hollywoodmogul David Geffen verhielten sich anders und schickten einen Blankoscheck.
Mit dem Studio 54 der Schrager/Rubell-Ära endete nicht nur die Diskoepoche der glamourösen Exzessivität es starb auch das Konzept des Clubs, in dem sich verschiedene Szenen mischten und manchmal sogar etwas Neues entstand, jenseits der sexuellen oder der sozialen Zugehörigkeit, die heute das Nachtleben in New York bestimmen.
Rubell und Schrager hatten nie wirklich begriffen, ob sie mit dem Studio 54 ein soziales Experiment, eine Theaterbühne oder einfach nur eine Geldmaschine betrieben. Darum und auch, weil sie ahnten, daß die besten Zeiten für das Clubleben vorbei waren, renovierten sie schon früh in den achtziger Jahren Hotels nur dieses Mal ohne schwarze Müllsäcke im Keller.
Es lohnte sich. Als Rubell 1989 an Aids starb, hinterließ er ein Vermögen von 50 Millionen Dollar und sein Seil aus Samt, das auch noch in der Synagoge während der Beerdigungsfeier die Gäste in wichtige und sehr wichtige teilte. Schrager beherbergt heute in seinen Luxushotels genau die Hollywood-, Rock- und Modestars, von denen viele längst nicht mehr in Nachtclubs gehen. Sie besitzen ja heute selbst Vergnügungshallen wie das "Planet Hollywood" oder das "Fashion Café".
Der Spaß ist heute eben ein anderer: Warum auf Partys fremder Leute sich selbst verschwenden, wenn einer auch abgeschirmt von zehn Leibwächtern in seinem eigenen Laden einsam feiern und sogar mit einer ausgestellten alten Lederjacke, die er einmal ein paar Minuten in einem Hollywood-Film getragen hat, Geld machen kann.
Thomas Hüetlin