"Geh und lebe" Das Kind des Jahrhunderts
Der Junge hat keinen Namen. Jedenfalls erfährt der Zuschauer über die ganzen zweieinhalb Stunden des Filmes nicht, wie ihn seine leibliche Mutter genannt hat. Irgendwann heißt er Schlomo, das wird ihm das Überleben sichern. Fortan ist der Junge damit beschäftigt, das zu werden, was der neue Name vorgibt: Jude. "Va, vis et deviens" hat Regisseur Radu Mihaileanu seinen Film im französischen Original betitelt: Geh, lebe und werde. Aber was soll man werden, wenn man nicht sagen darf, woher man kommt?
Der Junge, den sie Schlomo nennen, kommt aus Äthiopien. Vor Hunger und Krieg ist er mit seiner Familie in den Sudan geflüchtet. Die jüdischen Äthiopier im Flüchtlingslager dürfen nach Israel ausreisen, die christlichen müssen im Elend ausharren. Die christliche Mutter des Jungen gibt ihn in die Obhut einer jüdischen Äthiopierin, die gerade ihren eigenen, an Unternährung gestorbenen Sohn beerdigt hat. An ihrer Seite darf der Neunjährige ins Gelobte Land reisen. "Du bist jetzt ein Jude", sagt ihm die Pflegemutter, die ihm den Namen Schlomo gibt und kurz darauf selbst den Strapazen der Flucht erliegt. Nun muss sich der Junge alleine durchschlagen. Mit fremdem Namen in einem fremdem Land.
Rollenspiel um Tod und Leben
Der Exodus, den Mihaileanu in "Geh und lebe" beschreibt, bezieht sich auf eine zeitgeschichtliche Begebenheit, von der im Kino bislang noch nicht erzählt worden ist: 1984 führte der israelische Geheimdienst mit amerikanischer Unterstützung die "Operation Moses" durch. In einer groß angelegten Aktion flog man gut 6000 äthiopische Juden ins Gelobte Land aus. Die christlichen Flüchtlinge aber, die sich in die Transporte "geschmuggelt" hatten, sortierte man aus und schickte sie zurück nach Afrika. Inzwischen gibt es eine feste Gemeinde von schwarzen Juden in Israel, deren Glaubenszugehörigkeit allerdings von einer größeren Öffentlichkeit angezweifelt wird. Wer als religiöser Simulant entlarvt wird, muss das Land verlassen.
So wird in "Geh und lebe" das Überleben eine Frage der Täuschung - ein Thema, das Mihaileanu schon auf andere Weise in seinem vorherigen Film bearbeitet hat. In der Holocaust-Tragikomödie "Zug des Lebens" erzählte der rumänische Regisseur, der in Frankreich lebt und arbeitet, von einem Schtetl, das sich während des Zweiten Weltkriegs selbst deportiert. Um an den deutschen Truppen vorbei nach Palästina zu kommen, verkleidet sich die eine Hälfte des Dorfes als Nazis, welche die andere Hälfte bewacht. Die bittere Ironie der an Chaplin und Lubitsch geschulten Camouflage: Je besser die Juden die Herrenmenschen spielen, desto größer ist die Chance den Massenmord zu überleben.
Dass nun in dem Flüchtlingsmelodram "Geh und lebe" ein gebürtiger Christ in die Rolle des Juden schlüpfen muss, stellt erstmal eine heikle Erzählkonstruktion dar. Die Spiegelung des Plots vom Genozid des Zweiten Weltkriegs im afrikanischen Exodus (eine der zentralen Figuren in "Zug des Lebens" wird wie der Junge in "Geh und lebe" Schlomo genannt) birgt das Risiko des Relativismus: Verhält sich der israelische Staat prinzipiell nicht ebenso unmenschlich wie das Nazi-Regime, wenn es Andersgläubige in den sicheren Tod nach Afrika zurückschickt?
Im Namen des Anderen
Als humanistischer Appell wäre "Geh und lebe" eine recht fragwürdige Angelegenheit. Doch Mihaileanu nutzt seinen Stoff für weit mehr: Aus dem streichersatt und bildgewaltig in Szene gesetzten Flüchtlingsepos tritt mehr und mehr eine vielschichtige Identitätsstudie hervor. Der Held muss das Mutterland hinter sich zurücklassen, ohne je vollständig im Gelobten Land anzukommen. Für Milhaileanu ist dieser kulturelle Grenzgänger "das Kind des Jahrhunderts": "Es schließt einen Kompromiss mit dem Irrsinn der Geschichte."
Diesen Irrsinn schlüssig in einer einzigen Figur aufzulösen, ist zweifellos die große Leistung des Regisseurs und seiner drei Hauptdarsteller Moshe Agazi, Mosche Abebe und Sirak M. Sabahat, die Schlomo in seinen unterschiedlichen Entwicklungsphasen verkörpern. Der Junge ist nie nur Assimilation, er ist nie nur Widerstand. Hat der kleine Schlomo noch Schwierigkeiten, vor den israelischen Kontrollorganen seinen vermeintlichen jüdischen Stammbaum vorzutragen, entwickelt er sich als Teenager zum leidenschaftlichen Thora-Kenner, der sämtliche Altersgenossen im theologischen Wettstreit auszustechen versteht. Die Heirat mit der Tochter aus orthodoxem Haus bleibt ihm trotzdem über lange Zeit verwehrt, da er aus Sicht des Hausherrn als Schwarzer eben kein richtiger Glaubensbruder sein kann.
Auf diese Weise entwickelt sich der Film, der mit seinen zweieinhalb Stunden keine Minute zu lang ist, zu einem komplexen Psychogramm: Das Fremde wird im Erleben zum Teil des Ichs. Das Eigene wird deshalb aber nicht gelöscht. Der Junge aus Äthiopien hat zwei Religionen, zwei Kulturen, zwei Heimatländer. Doch er zerbricht nicht an diesen Widersprüchen, sondern erkennt sie in einem schmerzhaften Prozess glaubhaft als Teile der eigenen Geschichte. Der afrikanische Israeli ohne Namen - allen interkulturellen Grausamkeiten zum Trotz findet er sich selbst.
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