
Girl: Mit blutenden Füßen
Transgender-Drama "Girl" Ein beiläufiges Wunder
Ihre Füße bluten, schon wieder. Sie tanzt mit unglaublichem Schwung, durchquert den Raum. Sie fällt. Rafft sich sofort wieder auf, springt, ein zierlicher Junge hebt sie in die Luft. Nur will das nicht ganz glücken, die Bewegung stockt, sie setzen neu an, mehrmals. Ist sie zu schwer für ihren Partner oder fehlt ihm die Kraft? Die Lehrerin ist fürsorglich und erklärt: Andere Ballerinen trainieren, seit sie ganz klein sind, schon allein, damit die Füße mehr aushalten.
Sie heißt Lara, und damit sie noch graziler wird, isst sie kaum. Obwohl sie sich mitten in dieser harten Zeit des Übergangs befindet, der Pubertät, gerade erst auf der fordernden Tanzschule angenommen wurde, und es nicht zuletzt kaum erwarten kann, dass ihre körperliche Transformation einsetzt. Lara, die es nicht duldet, anders genannt zu werden, guckt sich immer wieder im Spiegel an. Die Hormonbehandlung beginnt, wirkt aber nicht gleich.

Girl: Mit blutenden Füßen
"Girl" von Lukas Dhont, der bei den Filmfestspielen von Cannes mit Preisen überschüttet wurde und auch für Belgien ins Oscar-Rennen geht, ist nicht einfach irgendein Film über ein gesellschaftlich wichtiges Thema. Der schlichte Titel legt bereits nahe, mit welchem Gespür und Bewusstsein für die Fallstricke einer solchen Geschichte und der Erwartungen an sie der Regisseur vorgeht. Tatsächlich macht er von Beginn an deutlich, weniger einen Film "über" als einen "mit" seiner Protagonistin realisieren zu wollen. Kaum etwas ist schwieriger als das.
"Girl"
Belgien 2018
Regie: Lukas Dhont
Drehbuch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens
Darsteller: Victor Polster, Arieh Worthalter, Katelijne Damen, Oliver Bodart, Valentijn Dhaenens, Tijmen Govaerts, Magali Elali, Alice de Broqueville, Alexia Depicker
Produktion: Menuet Producties, Frakas Productions, Topkapi Films
Verleih: Universum Film/ DCM
Länge: 106 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Start: 18. Oktober 2018
Dhont beginnt sein Spielfilmdebüt mit einer starken Setzung: Lara ist umgeben von einer liebenden Familie, die nicht von der nötigen Veränderung überzeugt werden muss, sondern die sie voll unterstützt, in allem: dem Traum, professionelle Tänzerin zu werden, genauso wie bei ihrer geschlechtsangleichende Operation. Gerade die Rolle des anwesenden und verständnisvollen Vaters Mathias (Arieh Worthalter) ist ein kleines, beiläufiges Wunder. Wie so vieles erzählt ihn Dhont aus den konkreten Situationen heraus, liebevoll in der emotionalen Krise, nachfragend bei der Ärztin, aufmerksam im Auto, besorgt angesichts des zunehmenden Schweigens seiner Tochter.
Zwischen dramaturgischen Zuspitzungen und ausschnitthaften Perspektiven
Lara selbst ist mehr als das Zentrum des Films, sie ist dessen Obsession. Kaum ein Bild, in dem der Darsteller Victor Polster, selbst Tänzer, der sich mit dem männlichen Geschlecht identifiziert, nicht auftaucht. Kaum ein Bild, in dem der tolle niederländische Kameramann Frank van den Eeden ("Cobain") nicht an Lara klebt. "Girl" ist neugierig auf sie, vor allem aber von Empathie und der dringlichen Überzeugung getragen, dass sie nur aus der Nähe heraus verstanden werden kann. Das Körperliche als intimer Prozess, der irgendwie mit den gesellschaftlichen Rollen und Vorstellungen an die Geschlechter zusammenhängt, sich aber nicht aus ihnen heraus erklären lässt.
Von einer Zeitungsnotiz inspiriert, sucht "Girl" gerade nicht den Abgleich mit Schlagzeilen-tauglichen Problemfeldern oder gesellschaftlichen Diskursen über Trans*-Menschen allgemein. Denn die körperliche Dimension ist immer schon funktional auf den professionellen Tanz bezogen. Die großen und kleinen Fragen nach Akzeptanz und Stereotypen werden im Unterricht, in der Umkleide und hier und da in der Gemeinschaft der Tänzerinnen angeschnitten, aber nie auf eine Weise bedient, die daraus so richtig Kapital schlagen würde. Stattdessen münden Konflikte regelmäßig in Ausweichmanövern.
Faszinierend an Dhonts Inszenierung ist just die Gratwanderung zwischen den dramaturgischen Zuspitzungen und der ausschnitthaften Perspektive, die die Erfahrung einzelner Momente priorisiert. Aus dieser Logik heraus erschließt sich die große Erzählung von der schwierigen Adoleszenz, dem Kampf gegen Widrigkeiten und für die eigene Identität als eine, zu der ein direkter Zugang von außen unmöglich ist. "Girl" baut ganz sachte eine Brücke.