"Hard Candy" Rotkäppchen reloaded
Das Bild ist in freundlichen Farben gehalten, doch trägt es die finstere Grundierung des ganz und gar Falschen in sich: Der Mann ist Anfang 30, gutaussehend und charmant. Das Mädchen ist 14 und hat Schokolade im Mundwinkel. Ihr Treffen im lichten Großstadtcafé haben die beiden in einem Chat verabredet, wo sie unter den suggestiven Pseudonymen Thonggrrrrrl14 und Lensman319 aufeinander gestoßen sind.
Nun plaudert er über seine Arbeit als Modefotograf, sie erzählt von ihren Hausaufgaben. Im Gespräch fallen Bandnamen und Buchtitel, mit denen sich beide ihrer Gemeinsamkeiten versichern. Man beschließt schnell, den Nachmittag im Haus des Mannes fortzusetzen. Beim Gehen lobt er wiederholt ihre intellektuelle Reife, sie trägt einen scharlachfarbenen Kapuzenpullover, der förmlich "Rotkäppchen" schreit.
Kurz nach der gleichsam beiläufigen wie beklemmenden Eröffnungsszene stellt sich im Thriller "Hard Candy" jedoch bereits die Frage, ob es nicht eher des Wolfes neue Kleider sind. Denn das Spielfilmdebüt von David Slade hebelt mit beängstigender Konsequenz alle Erwartungshaltungen aus, die das Publikum mit sich in den Saal getragen haben mag.
Wie radikal das Drehbuch von Theaterautor Brian Nelson mit den Konventionen des Genres bricht, offenbart sich nach der Ankunft von "Thongrrrrrrl" Hayley (Ellen Page) und "Lensman" Jeff (Patrick Wilson) in dessen Wohn- und Arbeitsstätte. Die Raum gewordene Designzeitschrift setzt mit ihren klaren Linien den Rahmen für das kommende Fanal, das mit einigen von Hayley gemixten Cocktails und Jeffs daraus resultierender Ohnmacht beginnt.
Als er wieder erwacht, sitzt er gefesselt einer adoleszenten Anklägerin gegenüber. Er sei ein Pädophiler, besitze Kinderpornografie und habe wiederholt Kontakt zu Minderjährigen im Internet gesucht. Zudem, so Hayleys vernichtender Vorwurf, sei Jeff mitverantwortlich für den Tod eines jungen Mädchens. Ein Geständnis und die Herausgabe der Beweise seien daher sein einziger Ausweg, denn ansonsten werde sie drastische Maßnahmen ergreifen: Ein Skalpell und das Handbuch für Chirurgie, welches Hayley aus ihrem Tragebeutel hervorholt, unterstreichen die ruhig vorgetragene Drohung.
Tribunal am Küchentisch
Fortan rotiert die aus den Fugen geratene Täter-Opfer-Konstellation mit zerstörerischer Wucht durch das Kammerspiel, wobei neben den beiden Protagonisten vor allem die ideologischen und ethischen Gewissheiten Schaden nehmen. Zwar erhärtet sich der Verdacht gegen Jeff aufgrund belastender Fundstücke, doch Hayley übertritt bei der Inquisition des mutmaßlichen Kinderschänders sämtliche Grenzen. Daher verschafft ihre bis ins Detail durchdachte Selbstjustizperformance, bei der sie sich unter anderem Jeffs Kastration am Küchentisch als Option bereithält, dem Zuschauer auch keine reißerische Genugtuung.
Ohne moralischer Ambiguität anheim zu fallen und so schlimmstenfalls das unentschuldbare Verbrechen des sexuellen Missbrauchs zu relativieren, gelingt es "Hard Candy", die fatalsten Facetten im Wirken von Gewalt und Macht in einer präzise gestalteten Miniatur zu fassen.
In dieser ist weder für Kunstblut noch für Küchenpsychologie Platz, und auf visuelle Transgression im Stil des Slasherkinos wird ebenso verzichtet wie auf simple Profiler-Pathologien. Hayley etwa bezeichnet sich selbst kokett als schwer gestört. Jeff wiederum schildert unter Tränen ein traumatisches Kindheitserlebnis, nur damit Hayley ihn daraufhin der mitleidheischenden Manipulation bezichtigt: Ob wahr oder nicht, ein alles einlotender Befund bleibt aus.
Eindeutig ist hingegen die Distanz des Films zum voyeuristischen Potential seiner Geschichte. Wie oft gerät im Kino die behauptete Auseinandersetzung mit Pornografie, sexueller Gewalt und Missbrauch zur sensationalistischen Revue, die mit exakt denselben, nur rhetorisch angeprangerten Mitteln der Ausbeutung und Ausstellung arbeitet.
In den streng komponierten Tableaus von "Hard Candy" hingegen gibt es keine Fetischisierung des Verbotenen, und etwaige Spanner werden in eine kalte, helle Hölle blicken.
Das sezierende Subjekt
Gerade weil der offensichtliche Schmuddel fehlt und die Figur des stilsicheren Fotografen Jeff so gar nicht dem gängigen Bild des Päderasten entspricht, kann der Film das Kalkül jener Oberflächenästheten bloßstellen, die Frauen zum Objekt sanktionierter Kunstpornografie machen.
Denn so gewandt sie ein Skalpell schwingt, so präzise seziert Hayley als eloquente Anti-Lolita auch die Rechtfertigungsstrategien Jeffs, der seine Mädchenmodelle zu eben solchen Objekten macht. Das dieser grundsätzliche Disput nicht in der schockierenden Eskalation der Ereignisse verhallt, ist den überragenden Darstellern zu verdanken. Die 19-jährige Kanadierin Ellen Page in ihrer Heimat längst eine gefragte Charakterdarstellerin und ein kongenialer Patrick Wilson dringen bis in die dunkelsten Reservoire ihrer respektiven Rollen vor.
So innig ist ihr schmerzhaftes Zusammenspiel, dass es bisweilen scheint, man wäre nicht Zeuge des rücksichtslosen Überlebenskampfes zwischen einem todernsten Riotgirl und dem männlichen "Stranger with Candy", sondern lausche vielmehr dem zweistimmigen inneren Streit einer beschädigten Seele.
Doch selbst bei dieser zerebralen Lesart verstören die letzten Einstellungen dieses großartigen und grausamen Films in einem Maße, das seit langem nicht mehr im amerikanischen Erzählkino erreicht wurde.
Am bitteren Schluss taucht auch der rote Kapuzenpullover noch einmal auf. Diesmal scheint er jedoch mit Hayleys Worten zu schreien: "Playtime is over, now it's time to wake up".