"Harry Potter und der Stein der Weisen" Mangel an Muggeligkeit

Reine Ansichtssache: Mit der Verfilmung des Bestsellers "Harry Potter" ist dem Hollywood-Regisseur Chris Columbus eine makellose Literaturadaption gelungen - leider auf Kosten jeglichen Gefühls.
Von Wiebke Brauer

Leuchtende Kinderaugen, rote Bäckchen, offene Mündlein? Nichts da. Mit "Harry Potter" kommt ein Film in die Kinos, der zu viel sein will - eine perfekt zu vermarktende, actionreiche Literaturadaption ohne Fehl und Tadel. Das Resultat: schmerzende Sehnerven, blasse Wangen, Maul gestopft.

Zugegeben, Chris Columbus ("Kevin allein zu Haus") und Drehbuchautor Steve Kloves ("Wonder Boys") haben sich viel Mühe gegeben, es eingeschworenen Harry-Potter-Fans wie der Urheberin Joanne K. Rowling recht zu machen - und wurden damit offenbar die Geister nicht mehr los, die sie anriefen. Die Geschichte des kleinen Jungen, der auszog, um das Zaubern zu lernen, ist formal lückenlos in ein anderes Medium übersetzt worden. Keine Figur und keine Szene des Romans fehlen im Film. Ob Troll samt Schleim oder der Schulsport "Quidditch" mit Flatter-Schnatz - alles taucht auf und verschwindet wieder ohne nennenswerte Nachwirkung im Strudel der filmisch durchhetzten Ereignisse. Pech für den Unkundigen: Wer den Bestseller nicht las, dem bleiben im Kino der Zauber um denselben sowie szenische Zusammenhänge verborgen.

Hauptdarsteller Daniel Radcliffe und Emma Watson in der Rolle seiner korinthenkackenden Mitschülerin Hermine hinterlassen einen ähnlich ratlosen Eindruck. Watson verfügt zwar nicht über die im Buch beschriebenen großen Zähne, weist aber dafür eine augenfällige Ähnlichkeit mit Britney Spears auf. Gleichermaßen massentauglich versüßt ist die Figur des Harry: Radcliffe mag ein reizender kleiner Racker sein, in dem Joanne Rowling sogleich ihren "verlorenen Sohn" wieder gefunden hat und der sich dazu für das Millionengeschäft von Warner Bros. verkaufsgerecht klonen lässt. Doch leider hat Abziehbild Radcliffe das Charisma jenes debil grinsenden Jungen, der sich seit Jahr und Tag auf der Packung der Kinderschokolade befindet. Genauso zweidimensional ist das schauspielerische Repertoire Radcliffes: Dargeboten wird der offene Mund als Zeichen für Erstaunen und die hochgezogene Augenbrauen für.. ähm... Erstaunen.

Dabei wird das gebügelte Zauberschüler-Paar von der Crème de la Crème der britischen Schauspieler eingerahmt: Robbie Coltrane ("Für alle Fälle Fitz") gibt den ungehobelten Hagrid, die Shakespeare-Erprobten Richard Griffiths und Alan Rickman verkörpern den spießigen Muggel-Ziehvater Harrys, beziehungsweise den finsteren Professor Snape. Besonders auffallen tut die Hochwertigkeit dieser Liga nicht. Für die Entfaltung eines Charakters bleibt im Film keine Zeit. So beträgt die Auftrittsdauer von John Cleese circa 20 Sekunden - er stellt sich als Schlossgeist namens "fast kopfloser Nick" vor, klappt den Kopf zur Seite - und ab.

Das ist insbesondere deswegen traurig, weil gerade die Romanfigur des beinahe enthaupteten Sir Nicholas De Mimsy-Porpington durch ihren Schabernack für Gekicher im Kinderzimmer sorgte. Doch der Film ist dehumorisiert - wer im Kinosaal auf mehr als zwei Lacher wettet, hat verloren. Stattdessen gilt bei "Harry Potter" der Slogan: "Grusel statt Giggel": Abgeschlachtete Einhörner, sensenmannartige Unholde und dreiköpfige Kampfhunde verbreiten über 152 lange Minuten hinweg schnittigen Schrecken. Was jedoch in anderen Filmen mit einem Lacher wieder gelöst wird, entspannt sich hier nur zur nächsten Action-Sequenz.

Immerhin hat der Film 250 Millionen Mark gekostet, auch wenn man ihm das nicht immer ansieht. Harrys düsterer Gegenspieler, im Buch hinter vorgehaltener Hand "Du-weißt-schon-wer" genannt und auf Grund seiner Unaussprechlichkeit immer für ein Schmunzeln gut, heißt im Kino schlicht Lord Voldemort und sieht aus, als ob sich jemand mit Filzstift eine Fratze auf den Daumen gemalt hat.

Ausgespart wurde offensichtlich auch das mitschülerische "Du hältst dich wohl für was Besseres", welches dem außerordentlichen Harry im Buch entgegenschlägt. Normale Probleme wie Schulstress, Hunger oder Müdigkeit sind im Buch sehr wohl Thema - im Film nicht. Das Ergebnis ist eine Distanz zu einem antiseptischen Produkt, wird doch jegliche Identifikationsfläche von der Leinwand getilgt. Besonders merklich wird dieser Mangel an Muggeligkeit, wenn eine mediokre Person wie Harrys Quidditch-Trainer Oliver Wood (Sean Biggerstaff) auftaucht und man ihn über die Maßen sympathisch empfindet - bloß weil er sich wie ein Coach benimmt und zur Abwechslung auch mal so aussieht.

Und so gewinnt die Realität im Film "Harry Potter" eine unvermutete Relevanz. Findet man doch nicht nur die falschen Figuren sympathisch, sondern vermisst jene Fassette, die Millionen Kinder hypnotisiert hat: Charme durch Menschelndes im Phantastischen - jene bezaubernden Nichtigkeiten, die für die Liebenswürdigkeit der Geschichte essenziell sind. So hängen in der Zauberschule Hogwarts belebte Bilder, deren Bewohner sich aus Geselligkeit wie Langeweile gegenseitig besuchen. Im Film ist der eine oder andere Ölschinken zwar animiert, von Soziabilität aber keine Spur. Ein Pars pro Toto, wie es im Buche steht: Nur bewegte Bilder reichen eben nicht. Entsprechend überflog Potters schneeweiße Brief-Eule überfilmreif die Leinwand, und ein ziemlich kleines Mädchen flüsterte bei ihrem Anblick ihren uncharismatischen Namen: "Hedwig".

"Harry Potter und der Stein der Weisen" ("Harry Potter and the Philosopher's Stone"). USA 2001; Regie: Chris Columbus; Drehbuch: Steve Kloves; Darsteller: Daniel Radcliffe, Emma Watson, Rupert Grint, John Cleese, Robbie Coltrane; Alan Rickman, Richard Harris; Länge: 152 Minuten; Verleih: Warner Bros.; Start: 22. November 2001.

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