Biopic "Hitchcock" Der Mann, der zu viel fraß
"Wenn das Kino von heute auf morgen wieder ohne Tonspur auskommen müsste und wieder zu einer stummen Kunst werden würde, wäre ein Gutteil Regisseure zur Arbeitslosigkeit verurteilt, unter den Überlebenden aber wäre Alfred Hitchcock, und alle Welt würde endlich begreifen, dass er der beste Regisseur der Welt ist."
So François Truffaut am 2. Juni 1962 in einem Brief an eben diesen Hitchcock, den er mit dem Schreiben für ein Buchprojekt erwärmen wollte. Das auf einem 50-stündigen Interview basierende Werk "Le Cinéma selon Hitchcock" erschien dann einige Jahre später, in Deutschland wurde es unter dem schmissigen Titel "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" populär.
Natürlich wollte Truffaut dem Adressaten besonders schmeicheln, aber seine Bewunderung war aufrichtig und reflektierte die Bedeutung, die Hitchcocks visuelle Virtuosität für die experimenthungrigen Autorenfilmer der Nouvelle Vague hatte. Wie kein anderer Filmemacher vor ihm machte Hitchcock das Kino zu einer angst- wie lustvollen Schule des Sehens. Und nicht wenige seiner besten Filme machten den schuldigen Blick des voyeuristischen Betrachters selbst zum Thema. Dies alles sollte man sich vergegenwärtigen, denn nur dann wird das ganze, klägliche Ausmaß des Versagens von Sacha Gervasis bräsigem Biopic "Hitchcock" deutlich.

Biopic "Hitchcock": Bonmots auf Knopfdruck
Gervasi will nicht weniger als drei Geschichten erzählen: Warum sich Alfred Hitchcock nach seinem erneuten Comeback mit der Agentenposse "Der unsichtbare Dritte" (1959) gegen etliche Widerstände ausgerechnet für das Wagnis "Psycho" entschied, welche Gestalt seine oft kolportierte Obsession für zumeist blonde Hauptdarstellerinnen hatte, und wieso seine Beziehung mit Ehefrau Alma Reville so wichtig war. Da hier ohnehin kein Suspense zu finden ist, sei vorweggenommen: Keine einzige der spekulativen Fragen wird nur annähernd befriedigend, geschweige denn unterhaltsam beantwortet.
Die Hitch-Handpuppe
Stattdessen bekommt das Publikum eine Lektion in Wald- und Wiesenpsychologie, die schon in den Fünfzigern als altbacken abgetan worden wäre. Sowie ein Bild von Hollywood, das dermaßen klischiert daherkommt, als hätte sich eine Rosamunde-Pilcher-Produktion auf dem Weg nach Cornwall verflogen. Und buchstäblich bildfüllend Anthony Hopkins in der Rolle des korpulenten Regiestars und PR-geschulten Selbstinszenators Hitchcock. Nur ist Hopkins hier nicht mehr als ein latexummantelter Sprechkörper, eine Hitch-Handpuppe, die mechanisch Bonmots artikuliert.
Weitaus lebendiger, aber leider nicht glücklicher wirkt da Helen Mirren als Alma Reville, die sich im imposanten Schatten des Gatten um dessen Gesundheit und Geschäftsgebaren sorgt. Dabei böten das erhebliche finanzielle Risiko, das die Hitchcocks als Produzenten von "Psycho" eingingen, sowie die Skepsis seitens der Studios angesichts des wenig kommerzträchtigen, aber umso riskanteren Plots um das mordende Muttersöhnchen Norman Bates tatsächlich Stoff für eine spannende Fiktion über die Entstehung des prototypischen Thrillers.
Doch statt sich wirklich hinter die Kulissen zu wagen, und vielleicht sogar mal zu zeigen, wie Illusionsbildung funktioniert, mäandert der Film lieber zwischen einem halbgaren Flirt zwischen Alma und Drehbuchautor Whitfield Cook (Danny Huston) und vermeintlich entlarvenden, aber im Grunde entsetzlich biederen Szenen aus dem Hitchcock-Haushalt, die sich um den Umstand drehen, dass der übergewichtige Filmemacher keine Diät einhält und nachts den Kühlschrank plündert.
Psychologie wird zur Geisterbahnfahrt
Zum Dicken- gesellt sich der gespielte Blondinenwitz, immerhin haben sich ja auch Scarlett Johannsson (als Janet Leigh) und Jessica Biel (als Vera Miles) in diesen Kostümschwank verirrt. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass beide Rollen nur rein ornamentalen Charakter haben: Bei Hitchcock brachte die umstrittene Objektifizierung der Frau immerhin eine wichtige film- und geschlechttheoretische Debatte in Gang. "Hitchcock" hingegen fehlt jegliches selbstreflexive Moment.
Nebenbei, eine lohnende Auseinandersetzung mit dem zwiespältigen Frauenbild Hitchcocks bot jüngst die britische TV-Produktion "The Girl" (2012), in der die konfliktreiche Beziehung zwischen Hitchcock (beeindruckend verkörpert von Toby Jones) und Tippi Hedren (Sienna Miller) im Mittelpunkt steht.
Am eklatantesten aber zeigt sich die Hilf- und Gedankenlosigkeit von Gervasis Film in einigen unfreiwillig komischen Traumsequenzen, in denen Hitchcock dem Serienkiller Ed Gein (Michael Wincott) - berüchtigtes Vorbild der Figur Norman Bates - begegnet. Da wird Psychologie zur Geisterbahnfahrt - so stellen sich Menschen ohne Ideen wohl Kreativität vor.
Nun könnte man über all das lachen, wäre die Pointe nicht so traurig. Indem er in seiner Stumpfheit alles verneint, wofür die formale Radikalität seines Protagonisten stand, bringt "Hitchcock" die schlimmste Ausprägung von Opas Kino auf die Leinwand zurück. François Truffaut und sein Brieffreund hätten Besseres verdient.