Holocaust-Drama "Der Vorleser" Schuld und Sünde

Eine nackte Kate Winslet als ehemalige KZ-Aufseherin lädt ein zu reichlich kontroversen Diskussionen. Doch letztlich ist Stephen Daldrys Verfilmung von "Der Vorleser" nur eine brave Nacherzählung seiner Romanvorlage.

Man kann diesen Film geschmacklos finden, zu trivial, konfus oder kühl, und trotzdem bleibt immer noch ein Grund übrig, sich "Der Vorleser" anzusehen: Kate Winslet. Der Oscar, den sie am Sonntag dafür bekommen hat, ist absolut gerechtfertigt, auch wenn sie im Ehedrama "Zeiten des Aufruhrs" noch viel interessanter war.

Was schwer zu glauben ist, bei dem ganzen Wirbel, der gerade um Stephen Daldrys Verfilmung von Bernhard Schlinks Roman gemacht wird. "Der Vorleser" wird nun für alle Zeiten der "Holocaust-Sex-Film" sein, einer dieser von Skandalen umrankten Filme, die man wohl gesehen haben muss, um mitreden zu können.

Dabei hält sich der Film rigide an Handlung und Struktur der Textvorlage: Ein 15-Jähriger erlebt im Nachkriegsdeutschland sein sexuelles Erwachen mit der geheimnisvollen, schweigsamen 36-jährigen Hanna Schmitz, der er vor und nach dem Sex aus Werken der Weltliteratur vorliest.

Er verfällt ihr, doch sie verschwindet eines Tages, und erst Jahre später sieht er sie während seines Jura-Studiums wieder - ihr wird der Prozess gemacht, weil sie als ehemalige KZ-Aufseherin für den Tod von Hunderten Menschen verantwortlich sein soll. Sie zeigt keine Reue, sie hat ein anderes Geheimnis, für das sie sich mehr schämt. Das Geheimnis könnte sie vor einer lebenslangen Strafe bewahren, auch ihr früherer Liebhaber kennt es, doch beide schweigen.

Wie der Roman wechselt der Film häufig zwischen vier Zeitebenen - erzählt, wie aus dem Jungen von einst (David Kross, hervorragend) ein erfolgreicher aber emotionsgestörter Anwalt (Ralph Fiennes) geworden ist, und wie die mysteriöse reife Frau eine mysteriöse Gefangene bleibt, die nicht preisgeben will, ob sie ihre Schuld irgendwann eingesehen oder verstanden hat.

Im Buch wirkte das wie ein philosophisches Gedankenspiel um Schuld, Sühne und Sünde, um das Schweigen einer Generation und um die Hilflosigkeit der folgenden.

Der Film hat schon des Mediums wegen weniger Möglichkeit zur Introspektion und zu Ausflügen in die Gedankenwelt seiner Figuren. Regisseur Stephen Daldry ("The Hours") hilft sich mit langen Blicken in die sorgenerfüllten Gesichter seiner Protagonisten, deutet ihr Unglück an, ohne es erklären zu können.

In gewisser Weise ist das sogar reizvoll, weil gerade die Hauptfigur Hanna Schmitz so moralisch noch undurchsichtiger bleibt als in der Vorlage. Viele jedoch werden die kühle Zurückhaltung eher als frustrierend begreifen.

Sicher, die Sexszenen sind nicht gerade zimperlich und womöglich einen Hauch zu schwelgerisch eingefangen, doch letztlich ist "Der Vorleser" ein adäquates, geradezu vorsichtiges Nachstellen seiner Vorlage.

Skandalös kann der Film nur da sein, wo es der Roman schon gewesen ist, oder von manchen so empfunden wurde. Wer das Buch für brillant hält, für eine wichtige Auseinandersetzung mit dem Holocaust aus Sicht einer Schuldigen, kann das auch für den Film unterschreiben. Wer die gnädige Absolution einer uneinsichtigen Täterin beklagte, wird es hier wieder tun.

Aber dabei zuzusehen, wie die große Kate Winslet sich dieser Figur hingibt, wie sie ein Rätsel zu einem Menschen macht, ohne einfache Antworten liefern zu wollen - das ist ein Erlebnis vollendeter Schauspielkunst.

Wer dazu noch eine wirklich meisterhafte Literaturverfilmung sehen will, dem bleibt immer noch "Zeiten des Aufruhrs" nach dem Roman von Richard Yates.

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