Hommage an Deauville Von Lolita verführt
Ich stand in einem Laden voller Süßigkeiten, feinster Schokoladen und edelster Pralinen, alle unsagbar lecker und zum Greifen nah, und die Verkäuferin beugte sich zu mir herab und flüsterte in mein Ohr: "Nimm alles, was du willst." Und ich schaute sie an und rannte davon.
"Wen wollen Sie sprechen?" hatte mich die junge Frau im Pressebüro gefragt und mir eine Liste hingehalten. Darauf stand Rock Hudson, der seltsam ausgezehrt wirkte, von dem aber noch kaum jemand ahnte, dass er ein knappes Jahr später an einer furchtbaren neuen Krankheit sterben würde. Und eine unfassbar schöne Blondine namens Kim Basinger, der ich ein gutes halbes Jahr zuvor in "Never Say Never Again" an der Seite von 007 verfallen war. Und Shelley Winters, Stanley Donen, Ryan ONeal, Jodie Foster, Barry Levinson ...
Ich war 19, ich war in Deauville und wurde hofiert wie Gott in Frankreich. "Nnnein", sagte ich verwirrt. "Ich will mit niemandem sprechen. Ich brauch doch nur Fotos." Die junge Frau sah mich an, und unter Ihrem Blick wurde der Gott zum Bettler. "Da drüben", sagte sie barsch. "Nehmen Sie sich, was Sie brauchen." Sie drehte sich um und eilte davon; ich raffte die Fotos zusammen und suchte das Weite. Ich flüchtete aus einem Traum. Zum Glück kam ich nicht aus ihm heraus. Denn er war wirklich.
Die Reise nach Deauville war ein Geschenk meiner Eltern zum Abitur gewesen. Da ich mit 16 beschlossen hatte, Theaterwissenschaften mit dem Schwerpunkt Film zu studieren und dieses Fach mit einem Numerus clausus belegt war, hatte ich mich in der Oberstufe mächtig ins Zeug gelegt. Nun durfte ich zu einem Filmfestival meiner Wahl reisen. Das Budget von 800 DM reichte nicht ganz für Venedig. Doch ich kannte Deauville, weil ich im Oktober 1981 mit der Schulklasse ins einige Kilometer weiter westlich gelegene Cabourg gereist war.
Der Film macht das Spiel
Als wir damals mit dem Bus durch Deauville gefahren waren, war mein Blick auf das Kasino gefallen, und das wiederum hatte ich kurz zuvor in der jüngsten "Apropos Film"-Sendung gesehen. Eine sehr leicht bekleidete junge Dame namens Pia Zadora hatte darin über ihren Film "Butterfly" geplaudert, eine James-M.-Cain-Adaption mit Stacey Keach und Orson Welles. Auch Zadoras Gatte, ein millionenschwerer Türke namens Meshulam Riklis, offenbar Finanzier des Films, war ausführlich zu Wort gekommen. Meshulam war etwa doppelt so alt wie Pia. So was war mir neu. Nach der Sendung hatte das Wort Methusalem für mich einen völlig neuen Klang.
So machte ich mich im Sommer 1984 aufgeregt fertig für die Reise in die Normandie. Mein Vater hatte mir geraten, bei unserer Heimatzeitung "Die Glocke" anzufragen, ob dort an einem Festivalbericht Interesse bestehe. Vom Festival du Cinéma Américain hatte die zuständige Redakteurin Doris Witte (inzwischen: Pieper) noch nie gehört und von mir noch weniger. "Haben Sie bei uns oder einer anderen Zeitung schon mal was veröffentlicht?" fragte sie. "Nö", erwiderte ich. "Tja ... auf jeden Fall müssen Sie Fotos mitbringen, sonst können wir gar nichts machen."
Mit dieser klaren Ansage schritt ich, nach etwa 13-stündiger Bahnfahrt in Deauville angelangt, entschlossen zum Festivalzentrum: dem Kasino. Das Spielerparadies für die reichen Pariser, das um die Jahrhundertwende errichtet worden war, hatte schon bessere Zeiten gesehen. Der Putz bröselte von der Fassade, und die Gesimse waren teilweise abgebrochen.
Eigenartig. Ich hatte zwar noch nie ein Kasino aus der Nähe oder gar von innen gesehen, aber eines wusste ich aus vielen Filmen: Am Ende gewinnt immer die Bank. Was machten die hier mit ihren Gewinnen? Ich strich mein Konfirmationsjackett glatt, das etwas unter den Achseln kniff, aber sonst noch gut in Schuss war, und ging hinein.
An wenigen Tischen verloren sich eine Handvoll Spieler im Dämmerlicht. Sie wirkten wie zukünftige Heimatvertriebene, die sich mit letzter Kraft an ihre Scholle klammern. Um sie herum war eine neue, überaus hektische Zeit angebrochen. Bretterbuden aus Sperrholz waren mitten im Spielsaal eilends hochgezogen worden. Darin befanden sich die Büros des Festivals, gegenüber war ein Podium für die Pressekonferenzen zusammengezimmert worden. Wie eine Entweihung wirkte diese brachiale Zweckentfremdung des Kasinos.
Vom Kasino zum Kino
Andererseits musste ich daran denken, dass in meiner Heimatstadt Oelde das tolle "Schauburg"-Kino, in dem ich "King Kong Vs. Godzilla" in einer Matinee gesehen hatte, einem Supermarkt gewichen war, und das "Universum", wo James Bond in den späten Siebzigern Jupp Heynckes als mein Idol verdrängt hatte, inzwischen eine Kegelbahn beherbergte. Hier also war es nun genau umgekehrt, hier musste der Mammon seinen Platz wieder für das Kino räumen, und vielleicht war das der Beginn einer großartigen Rückeroberung.
Ich stellte mir vor, die Leuchtschrift dieses Kasinos würde flackern wie im Film, zwei Buchstaben, das "A" und das "S", würden ausfallen, und was bliebe, wäre nur: Kino. Doch ich hatte so oder so das Gefühl, den Jackpot in meinen Händen zu halten, als ich das Kasino verließ: viele tolle Hochglanzfotos im DIN-A-4-Format. Auf einem war eine hinreißend schöne Frau abgebildet, mit den längsten Beinen, die ich je gesehen hatte. Sie hieß Jamie Lee Curtis und spielte eine Hauptrolle in "Grandview, USA" von Randal Kleiser. Noch bevor ich den ersten Film in Deauville gesehen hatte, beschloss ich, Jamie Lee Curtis und "Grandview, USA" den Schwerpunkt meines Artikels zu widmen.
Dann rannte ich in die Vorstellung, die als nächste begann, und schaffte es gerade noch rechtzeitig in "Lolita" von Stanley Kubrick. Mit offenem Mund saß ich wenige Meter vor der Leinwand und bestaunte ein Wunder: einen Film, der in Schwarzweiß und zugleich in Scope war. So was gab es?! Dem Wunder folgte ein Märchen: Walter Hills "Streets of Fire". Der Film lief im damaligen Premierenkino, das sich im Kasino befand und das einzige mir bekannte Kino ist, in dem die Sitzreihen zur Leinwand hin ansteigen.
Der Film begann, und die Zuschauer gerieten außer sich, klatschten mit und sprangen von den Sitzen. Weil Filme beliebig vervielfältigt werden könnten, sei das Kino eine antiauratische Kunst, hatte Walter Benjamin geschrieben. War das hier etwa antiauratisch? Nein, das war wie ein Live-Konzert. Ich hatte zwar noch nie eines besucht, doch so musste es sich anfühlen. Und ich war auserwählt, dabei sein zu dürfen.
Blutige Initiation
Am nächsten Tag gegen Abend leerte sich die Stadt. Die Pariser kehrten heim in ihre Kapitale und ließen, wie mir schien, das Kino bis zum nächsten Wochenende achtlos am Atlantik zurück. Heftige Schauer gingen auf Deauville nieder, mein Jackett, das schon dem münsterländischen Dauerregen getrotzt hatte, ging mehr und mehr aus der Form. Von Markise zu Markise springend, eilte ich zum wohl kleinsten Kino des Festivals: dem Morny Club. Im Saal verloren sich kaum 20 Zuschauer; ich fing an zu zweifeln, ob ich mich für den richtigen Film entschieden hatte.
Dann hob sich der Vorhang. Bilder einer unwirtlichen Weite erschienen, Ölpumpen, die sich träge hoben und senkten, dazu murmelte eine männliche Stimme in kaum verständlichem Kauderwelsch, dass hier in Texas alles nach etwas anderen Gesetzen laufe. Und tatsächlich: Noch nie hatte ich einen Film gesehen, in dem die Hitze die innere wie die äußere derart physisch zu spüren war, so dass ich, vom Regen durchweicht, zu schwitzen anfing. Noch nie war mir eine Geschichte mit so vielen überraschenden Wendungen erzählt worden. Noch nie hatte ich in einem Film so viel Blut gesehen. Noch nie hatte mich ein Film so in Bann geschlagen wie "Blood Simple".
Ich taumelte aus dem Kino. Ein französischer Kritiker, offenkundig eine Lokalgröße ohne Pariser Wohnsitz, machte eine verächtliche Miene und schimpfte über den Film. Ich konnte das nicht ertragen und lief davon. In meinem Hotel, das im Nachbarort Trouville lag, konnte ich nicht schlafen vor Begeisterung, griff mir den Festivalkatalog und sah mir die Seite über BLOOD SIMPLE an. Sehr texanisch sahen die beiden Filmemacher ja nicht aus. Eher erinnerten sie mich an meine Lieblinge Simon & Garfunkel, nur dass sie Brillen trugen und der Kleinere von den beiden den Wuschelkopf hatte.
Am nächsten Morgen nahm ich all meinen Mut zusammen und ging ins Kasino, hin zur Holzbaracke, schnurstracks auf die Pressefrau zu. Sie drehte sich zu mir um und wirkte auf Stöckelschuhen nun noch größer als bei unserer ersten Begegnung. "Ich .. ich ... habs mir anders überlegt", stammelte ich. "Also, da gibts doch jemanden, mit dem ich gern reden möchte. Ja, eigentlich sinds sogar zwei: die Coen-Brüder."
Die Frau erstarrte in ungläubigem Staunen, dann ging ein Lächeln über ihr Gesicht, sie fasste mich an den Händen und sagte: "Ich bin ja so froh! Mit denen will nämlich so gut wie niemand reden. Die sind schon total deprimiert." Mit den Jahren und der sich rasant entwickelnden Karriere der Coens konnte ich diese Sätze immer weniger glauben, sie kamen mir vor wie der falsch erinnerte Dialog aus einem Film, den ich in meiner Jugend gesehen hatte.
Doch tatsächlich waren die Coens im September 1984 noch weitgehend unbekannt. "Blood Simple" lief erst fünf Tage nach der Aufführung in Deauville in Toronto, über einen Monat danach auf dem New York Film Festival und gewann schließlich im Januar 1985 den Preis der Jury beim Sundance-Festival.
Blutige Initiation
Ein Interviewtermin mit den Coens war erstaunlich schnell gefunden, er musste bloß am Nachmittag stattfinden, denn vor 13 Uhr seien die Brüder nicht ansprechbar, hieß es. Ich ging zum Interview, bewaffnet mit dem schweren Diktiergerät meines Vaters, betrat das erste Luxushotel meines Lebens, das Normandy, das ein wenig wie ein verwunschenes Schloss wirkte, und begrüßte die Coens. So fing es an: mit einem texanisch-westfälischen Handschlag.
Damals kannte ich den Begriff Film noir noch nicht. Von Raymond Chandler hatte ich zwar schon gehört, und über Dashiell Hammett hatte Wenders einen Film gedreht, aber wer war James M. Cain? Die wohl wichtigste Ebene von "Blood Simple" hatte ich zumindest bewusst gar nicht wahrgenommen. Aber ich kannte und liebte Hitchcock. So sprach ich mit den Coens fachmännisch darüber, "wie schwierig, mühsam und zeitraubend es ist, einen Mann umzubringen", über den Suspense, jene Spannung, die auf dem Wissensvorsprung des Zuschauers gegenüber den Figuren beruht und mit der die Brüder in "Blood Simple" so virtuos operieren, und über das Finale ihres Films, das von "Rear Window" beeinflusst ist.
Na ja, oft sprachen die Brüder miteinander, sie spielten sich die Sätze zu wie beim Pingpong, und ich war das Netz, an dem ab und zu ein Ball hängen blieb. Doch ich hörte immer wieder unerhörte Sätze: Doris Day, so sagten sie einmal, sei eine der großartigsten Schauspielerinnen aller Zeiten. Die halbe Stunde mit den Coens war meine erste und bis heute wichtigste Lehrstunde über das Kino.
Ich ging hinein in dieses Interview als Filmfan; und kam heraus als Filmjournalist. Als ich wieder in Oelde war und meine Texte über das Festival abgegeben hatte, kam ein Anruf von der "Glocke". Frau Witte sagte, die Texte seien in Ordnung, die Bilder auch, also würde sie eine ganze Seite über das Festival machen. Ich war unfassbar glücklich.
Es gebe nur ein Problem, sagte Frau Witte. "Welches?" fragte ich bang. Dieses Interview. Von den Coens habe man ja noch nie gehört, die Schauspieler seien auch alle völlig unbekannt, und die Geschichte des Films klinge ziemlich wüst. Ob ich denn wirklich von dem Interview überzeugt sei? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Könnte womöglich alles daran scheitern? Mein erster Zeitungsartikel?
Dann erwiderte ich entschlossen: "Ja, ich glaube, der Film ist es wert, die Coens sind es wert." Damit war es beschlossene Sache. Und so druckte "Die Glocke", die "Heimatzeitung im Herzen Westfalens", als erste deutsche Zeitung ein Interview mit den Coens ein Jahr, bevor der Film bei uns ins Kino kam.
34. "Festival du Cinéma Américain de Deauville", 5. bis 14. September 2008.