
"Inception"-Regisseur Nolan "Unser Hirn ist voller Implantate"
SPIEGEL ONLINE: Herr Nolan, in Ihrem neuen Film "Inception" behaupten Sie, das menschliche Gehirn könne sehr fein unterscheiden zwischen den Ideen, die es selbst hervorgebracht hat, und denen, die es von außen übernommen hat. Wissen Sie immer, wo Ihre Ideen herkommen?
Nolan: Es ist ungemein schwierig, die Herkunft der Ideen zu ermitteln, die uns durch den Kopf schwirren. Tatsächlich ist unser Gehirn voller Implantate. Wer weiß schon, ob seine Erinnerungen an die Kindheit echt sind oder auf den Erzählungen der Eltern basieren? Vor kurzem habe ich mir eine Blu-ray-Disc von Alain Resnais' Film "Letztes Jahr in Marienbad" angesehen. Schon nach wenigen Minuten war mir klar, dass viele Kritiker schreiben werden, wie stark mich dieser Film bei "Inception" beeinflusst habe. Die Parallelen sind offensichtlich. Dabei kannte ich ihn gar nicht! Aber er wird in so vielen anderen Filmen zitiert, die ich kenne, dass er sich hinter meinem Rücken in meinen eigenen Film geschlichen hat.
SPIEGEL ONLINE: Ernüchtert Sie die Erkenntnis, dass Sie manches Mal vielleicht doch gar nicht so originell sind, wie Sie denken?
Nolan: Es ist verwirrend. Da hat man ein Bild im Kopf, das einem völlig neuartig erscheint, setzt es voller Begeisterung auf der Leinwand um und stellt dann später fest, dass es aus einem anderen Film stammt, der schon Jahrzehnte alt ist. Natürlich hätte man gern die Kontrolle über die Einflüsse, die auf die eigene Arbeit einwirken. Doch vielleicht wären die Einflüsse gar nicht so stark, wenn wir sie kontrollieren könnten.
SPIEGEL ONLINE: Entwickelt sich das Kino durch diese Einflüsse nicht auch weiter?
Nolan: Klar. Letztlich kann man Filme gar nicht kopieren, weil ihre Herstellung viel zu komplex ist und viel zu viele Menschen daran beteiligt sind. Gus Van Sant hat vor einigen Jahren versucht, Hitchcocks "Psycho" Bild für Bild nachzuinszenieren, doch was am Ende dabei herauskam, war ein völlig anderes Werk. Das macht Filme so faszinierend, dass sie sich jedem Zugriff letztlich immer wieder entziehen.
SPIEGEL ONLINE: Wenn es Diebe wie ihren Helden Cobb gäbe, die in die Träume anderer Menschen eindringen könnten, um ihnen die Ideen zu klauen, würden die sich nicht vor allem in Hollywood tummeln?
Nolan: Wahrscheinlich. Die beste Art, in Hollywood eine Idee zu schützen, ist, mit niemandem darüber zu reden. Die Studios können es sich zwar nicht leisten zu klauen, dann würden sie sofort verklagt. Doch natürlich könnte ein Autor auf die Idee kommen, einen Film über Träume zu drehen, wenn er zufällig in einem Restaurant am Nebentisch sitzt, während ich mit jemanden darüber rede.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Angst davor? Sie gelten in Hollywood als großer Geheimniskrämer.
Nolan: Für die Idee, einen Film über Träume zu machen, kann ich kein Copyright anmelden. Natürlich fällt es nicht leicht, eine Idee für sich zu behalten, von der man begeistert ist. Im Gegenteil, man möchte ständig darüber reden! Das fällt mir leichter, denn meine Frau Emma Thomas ist meine Produzentin, mein Bruder Jonathan ist Drehbuchautor, oft arbeite ich mit ihm zusammen. Seit zehn Jahren rede ich mit den beiden über "Inception". Bei uns bleiben Betriebsgeheimnisse in der Familie.
SPIEGEL ONLINE: Und in Ihrer Garage. Sie scheint das Epizentrum Ihres Schaffens zu sein und gilt in Hollywood mittlerweile als mythischer Ort.
Nolan: Ich habe mit sieben Jahren angefangen, Filme zu drehen, im Keller unseres Hauses, mit einer Super-8-Kamera. Das war ein intimer Ort, an dem ich meiner Phantasie freien Lauf lassen konnte. Wenn man einen großen Film für ein Studio dreht, geht diese Intimität verloren, man muss Hunderte von Leuten anheuern, beauftragen, bezahlen. Deshalb habe ich bei den Vorbereitungen von "Batman Begins" meine Garage geräumt und meinen Production Designer Nathan Crowley dort einquartiert. Nur zu zweit haben wir dort das Design des Films entwickelt und das Batmobil entworfen. Man braucht so eine Spielwiese, auf der man einfach drauflos phantasieren kann, völlig unbeobachtet, ohne Druck von außen.
SPIEGEL ONLINE: Sie scheinen Ihre Arbeit und Ihr Privatleben gar nicht trennen zu wollen.
Nolan: Nein, ich find's toll, dass beides ineinander fließt. Meine Frau ist darüber manchmal etwas besorgt. Mich beunruhigt das gar nicht. Filmemachen ist für mich kein Beruf, es ist ein wichtiger Teil meines Lebens, ich habe es immer geliebt. Deswegen will ich auch, dass meine Familie daran teilhat, deswegen ist Emma meine Produzentin, deswegen schreibe ich mit meinem Bruder Jonathan zusammen Drehbücher, deswegen dürfen meine vier Kinder in meine Garage kommen und mit unseren Modellen spielen.
"Regieführen ist die Kunst der Mittelmäßigen"
SPIEGEL ONLINE: Hat die Nähe Ihrer Familie zu Ihrer Arbeit auch Nachteile?
Nolan: Früher hatte ich mehr Zugang zu meinen Träumen. Doch dazu muss man lange schlafen. Man muss aufwachen, dann wieder wegdösen, die Grenze zwischen Traum und Realität muss sich nach und nach auflösen. Nun habe ich aber inzwischen vier Kinder, die springen morgens um halb sieben putzmunter aus den Federn. Da ist nichts mehr mit Wegdösen. Aber ich habe immer noch ziemlich interessante Träume.
SPIEGEL ONLINE: Nutzen Sie die als Inspirationsquelle?
Nolan: Selten. Aber der Prozess des Träumens, bei dem die Welt jenseits aller Logik neu erfunden wird, setzt im Gehirn kreative Energien frei. Man betrachtet sich in seinen Träumen aus einem ganz anderen Blickwinkel. Wenn Sie einfach vor sich hin zeichnen, ist es oft hilfreich, die Zeichnung um 180 Grad zu drehen. Wenn Sie einen Kreis malen, erkennen Sie dann eher, wo der Kreis eine leichte Delle hat. Ähnlich funktionieren Träume, sie stellen unser Leben auf den Kopf. Könnte man seine eigenen Träume steuern, stände man direkt an der Quelle der eigenen Kreativität.
SPIEGEL ONLINE: Die Figuren in "Inception" träumen in einem fliegenden Flugzeug oder in einem fahrenden Lieferwagen. Fördert Bewegung die Kreativität?
Nolan: Kaum etwas stimuliert das Gehirn so sehr wie körperliche Bewegung. Wenn ich in einem Flugzeug sitze, und die Turbinen laufen schon, aber es geht gar nicht voran, wir stehen minutenlang auf dem Vorfeld, dann halte ich das kaum aus. Mein Hirn frisst sich fest. Aus diesem Grunde drehen Menschen ja auch durch, wenn sie im Stau stecken, oder fahren lieber riesige Umwege. Einfach deshalb, weil das Gefühl, in Regungslosigkeit zu verharren, so unerträglich ist. Der Kopf braucht Bewegung.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Figuren erkunden gern fremde Räume. Der Held in Ihrem Debütfilm "Following" folgt Passanten auf den Straßen von London und dringt dann heimlich in ihre Wohnungen ein. Damals sagten Sie, dass sei die "ultimative Form des Voyeurismus".
Nolan: Ich habe mich geirrt! In die Wohnung eines Menschen einzudringen, ist nur die halbe Miete. Der ultimative Voyeurismus besteht darin, in die Träume eines Menschen einzudringen. Das ist unglaublich verlockend und zugleich extrem beklemmend. Wenn Ariadne, gespielt von Ellen Page, in "Inception" in die Träume von Cobb eindringt, bin ich manchmal fast unangenehm berührt, möchte mich abwenden. Obwohl wir die Träume einer fiktiven Figur erzählen, habe ich das Gefühl, eine Intimsphäre zu verletzen.
SPIEGEL ONLINE: Genieren Sie sich bei diesen Szenen deshalb ganz besonders, weil Sie Brite sind?
Nolan: Jede Kultur kennt den Respekt vor der Privatsphäre, aber wir Engländer sind schon sehr diskret. Für mich ist es essentiell wichtig, dass bestimmte Bereiche unseres Innenlebens nur uns gehören, dass wir sie nicht preisgeben können, selbst dann nicht, wenn wir uns noch so sehr darum bemühen. Das ist der unveräußerliche Kernbestand unserer Identität. Es ist gut, dass wir Träume nicht teilen können.
SPIEGEL ONLINE: Können wir das nicht? Hollywood verspricht uns das doch dauernd!
Nolan: Das ist ein falsches Versprechen! Der eine findet den Film großartig, der andere findet ihn mies. Niemand sieht denselben Film. Kino heißt, dass tausend Menschen in einem Saal sitzen und den Blick derselben Figur teilen. Nirgendwo kommen die Menschen der Erfahrung so nahe, mit fremden Augen auf die Welt zu blicken. Aber sie kommen dieser Erfahrung nur nahe, sie machen sie letztlich nicht.
SPIEGEL ONLINE: Aber Hollywood prägt unsere Träume. Gäbe es das Kino nicht, würden wir nachts nicht von Verfolgungsjagden träumen.
Nolan: Auf jeden Fall. Jeder, der sich "Inception" anschaut, sieht einen Film über einen Traum über einen Film über einen Traum... Viele Filme, die mich und damit auch "Inception" beeinflusst haben, sind ihrerseits von Träumen beeinflusst wie "Ich kämpfe um dich" von Hitchcock, "2001: Odyssee im Weltall" von Kubrick oder die James-Bond-Filme. Wir können oft kaum noch unterscheiden, ob wir Traum-Bilder sehen oder Film-Bilder träumen.
SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben die Drehbücher zu Ihren Filmen, entwickeln das Produktionsdesign mit, Sie führen Regie und sind für Ihre Detailversessenheit berüchtigt. Sind Sie ein Blockbuster-Autorenfilmer?
Nolan: Regieführen ist die Kunst der Mittelmäßigen. Hätte ich herausragende Fähigkeiten, wäre ich was Anständiges geworden, Komponist oder Architekt. Ein Regisseur kann von allem etwas, aber nichts richtig. Aber genau das ist die Voraussetzung dafür, dass er seine Arbeit gut macht. Würde er von Musik zu viel verstehen, wäre das nicht gut für den Film. Ein Regisseur muss aus einem Team von Spezialisten das Beste herausholen. Ich liebe es, ein Hansdampf in allen Gassen zu sein. Müsste ich mich auf einen Bereich des Filmemachens beschränken, wäre ich nicht glücklich.
SPIEGEL ONLINE: Sie gelten als wertkonservativer Regisseur, der wenig von digitalen Effekten hält. Woher rührt diese Abneigung?
Nolan: Mich stören nicht die digitalen Effekte an sich, mich stört die Bequemlichkeit, zu der sie führen können. Am meisten nervt mich an Gesprächen mit anderen Filmemachern, wenn sie mir von neuem Equipment erzählen und davon schwärmen, wie leicht es zu handhaben sei. Ich pfeife auf Bequemlichkeit! Der Regisseur David Lean ist Anfang der sechziger Jahre für seinen Film "Lawrence von Arabien" mit kiloschweren 65-Millimeter-Kameras in die Sahara gezogen und hat unglaubliche Bilder geschaffen. Dann sollten wir heute zumindest in der Lage sein, das Gleiche zu schaffen. Aber wir schaffen weniger.
SPIEGEL ONLINE: Aber bedeuten leichtere, lichtstärkere Kameras nicht einen Zugewinn an künstlerischen Möglichkeiten?
Nolan: Klar, für kleine Produktionen. Aber bei einem Film wie "Inception" kann Bedienungsfreundlichkeit kein Kriterium sein. Wir haben schließlich die Ressourcen. Wir haben alle Möglichkeiten. Selbst mit den etwas sperrigen IMAX-Kameras kann man sehr intime Szenen drehen, das haben wir schon bei "The Dark Knight" gezeigt. Aber man muss sich anstrengen. Wir müssen wieder für handwerkliche Qualität sorgen. Vor einiger Zeit habe ich an der University of California in L. A. eine Kopie von "Blade Runner" vorführen lassen. Es war beschämend zu sehen, wie weit er vielen der heutigen Filme an Schärfe und Bildqualität überlegen ist. Man könnte glauben, das Kino habe sich seither zurück entwickelt.
SPIEGEL: Halten Sie das 3-D-Kino für einen Fortschritt?
Nolan: Die Unterscheidung zwischen 2-D und 3-D ist blanker Unsinn. Was die Leute meinen, wenn sie von 3-D reden, ist stereoskopisches Kino. Bei der Fotografie und beim Kino ging es jedoch immer darum, drei Dimensionen in zweien abzubilden. Die Szene in "The Dark Knight", in der sich der Lastwagen überschlägt, ist so wuchtig, wie es nur eben geht, sie hätte durch 3-D nichts gewonnen. Ich glaube nicht, dass darin die Zukunft des Kinos liegt. Außerdem liefern die 3-D-Kameras Bilder von beschämend geringer Auflösung. Ich könnte verzweifeln über diesen Niedergang an technischer Qualität. Aber was will man machen?
Das Interview führte Lars-Olav Beier
Hintergrund: Christopher Nolans Filme
Die Lust am kriminellen Verwirrspiel treibt Christopher Nolan, Jahrgang 1970, schon lange an: Bereits sein Debütfilm "Following" (1998) erzählt von Kriminellen, die sich die Lebensläufe anderer aneignen.
Mit "Memento", der Geschichte eines Mannes ohne Kurzzeitgedächtnis, die rückwärts erzählt wird, läutete Christopher Nolan 2001 eine kleine Revolution des Thriller-Kinos ein: Von da an war es cool, Kriminalfilme auch für den Zuschauer zu vertrackten Ermittlungsübungen zu machen.
Zwei Jahre später drehte Nolan das Drama "Insomnia", ein Remake des gleichnamigen Thrillers aus Norwegen von 1997. Es ist der bisher einzige Film, für den Nolan nicht auch als Autor verantwortlich zeichnet. In der Hauptrolle: Al Pacino als schlafloser Detective.
2005 folgte "Batman Begins" - die Neuschaffung des Superhelden-Mythos aus dem Geiste von Terror und Gewalt. Nolans düsteres Setting und sein zerquälter Superheld, gespielt von Christian Bale, begeisterte die Fans des Comics und sorgte für eine Belebung des Genres.
Mit dem Magier-Film "Prestige" gelang dem gebürtigen Londoner dann 2006 ein beklemmende Studie über Identitäten - und wie man sie loswird.
Eintritt in Hollywoods Ruhmeshalle: Rund eine Milliarde Dollar spielte Nolans zweiter Batman-Film ein, der mit großer Bildgewalt die Geschichte der beiden Erz-Gegner The Joker und Two Face erzählt. Überschattet wurde der Triumph des Actionkinos von Heath Ledgers Tod. Der Joker-Darsteller verstarb kurz nach dem Ende der Dreharbeiten.