Interview mit Woody Allen "Aus Leiden können wir nichts lernen"
SPIEGEL:
Mr. Allen, Ihr Film "Melinda und Melinda" erzählt die gleiche Geschichte zweimal, mal als Tragödie, mal als Komödie - und ist für die Zuschauer dabei immer sehr lustig. Glauben Sie, dass unserer Realität nur das Komische gerecht wird?
Allen: Die meisten Menschen lesen die Wirklichkeit komisch, obwohl tatsächlich alles so traurig, so schrecklich ist. Sie müssten sich wahrscheinlich umbringen, könnten sie nicht über ihr Leben lachen. Die Existenz an sich ist tragisch, brutal und unglücklich. Nur ab und zu passiert etwas Heiteres, das erfrischt. Darauf folgt der Rückfall in die Tragödie des Alltags. Denn die Wirklichkeit, von der wir jeden Morgen in der Zeitung lesen, ist einfach schlecht und grausam.
SPIEGEL: Zu Zeiten der alten Griechen, so scheint es, konnten die Zuschauer noch etwas lernen aus den Tragödien, die auf der Bühne dargestellt wurden. Sie selbst haben in einem ihrer früheren Filme, "Mighty Aphrodite", auf die griechische Klassik angespielt. Macht die Erfahrung von Leid bessere Menschen aus uns?
Allen: Da ist nichts Erlösendes an den Tragödien von heute. Sie fügen uns so viel Schmerzen zu, dass wir das umzudrehen versuchen zu etwas Positivem. Ja, wir haben uns gequält, sagen wir uns, aber dabei haben wir etwas erreicht, etwas gelernt. Das ist nur ein schwacher Versuch, irgendeinen Sinn in tragisches Geschehen hineinzuinterpretieren. Doch es ist völlig sinnlos, da gibt's keine Schokoladenseite. Leiden erlöst niemanden, nichts können wir daraus lernen. Deshalb hielt ich es für eine gute Geschichte, einen Tragödien-Filmer gegen einen Komödienregisseur zu stellen, um zu sehen, wer den Menschen mehr hilft. Durch seine Tragödie will der eine die Zuschauer mit der Realität konfrontieren, so dass sie ihr nicht entfliehen können. Dadurch sollen sie andere verstehen und lernen, sich großzügiger gegenüber den Schwächen ihrer Nächsten zu verhalten. Der Komiker dagegen sagt: "Die Welt ist schrecklich. Ich gebe euch deshalb zwei Stunden im Kino voll Musik und Gelächter." Das ist, wie ein Glas kaltes Wasser zu trinken an einem glühend heißen Tag. Man könnte argumentieren, dass diese Sicht zumindest Erleichterung auf kurze Zeit bringt.
SPIEGEL: Haben Sie als der weltberühmte Chronist von Manhattan den 11. September bisher nicht in ihre Filme einbezogen, weil ein derartiger Realismus ihre Fans belasten würde?
Allen: Ich finde einfach politische Themen oder das, was alles so Tag für Tag in der Welt passiert, nicht profund genug, um mich damit als Künstler auseinanderzusetzen. Als Filmemacher interessiert mich dieser Stoff nicht. Die ganze Menschheitsgeschichte besteht doch aus Morden, nur die Kosmetik, die Dekoration ändert sich: 2001 brachten einige Fanatiker Amerikaner um, und jetzt bringen Amerikaner ein paar Iraker um. Und in meiner Kindheit ermordeten die Nazis Juden. Jetzt schlachten Juden und Palästinenser sich gegenseitig ab. Politik ist auf die Jahrtausende gesehen eine zu flüchtige Angelegenheit, zu unbedeutend, denn alles wiederholt sich.
SPIEGEL: Vielleicht sehen wir in Europa Sie deshalb als eine Art Klassiker, als Shakespeare des Kinos. Haben Sie Ihren Film "Melinda und Melinda" wie ein chemisches Experiment angelegt, indem Sie die Personen unterschiedlichen äußeren Bedingungen aussetzen, um zu schauen, was passiert?
Allen: Ja, mich interessieren die ewigen Gefühle und Konflikte. Wenn ich einen guten Film mache, wird er den Wandel der Zeiten überdauern. Denn die Probleme der Menschen heute werden noch in 5000 Jahren Gültigkeit haben. Was schon die alten Griechen bewegte, rührt uns immer noch.
SPIEGEL: Sie selbst spielen nicht mit in diesem Film und auch für den nächsten haben Sie sich keine Rolle geschrieben. Werden Sie wieder auf der Leinwand erscheinen?
Allen: Das könnte schon diesen Sommer passieren. Denn wenn ich eine Zeit lang nicht auch vor der Kamera gestanden habe, bekomme ich Entzugserscheinungen.
SPIEGEL: Im Anschluss an "Melinda und Melinda" haben Sie mit dem jungen Hollywood-Star Scarlett Johansson im vergangenen Sommer "Match-Point" in London gedreht. Könnten Sie sich vorstellen, längere Zeit in Europa zu leben und mit europäischen Schauspielern zu arbeiten?
Allen: Nichts schmeichelt meinem Ego mehr, als wenn man mich für einen europäischen Filmemacher hält. Das ist das Höchste für mich. Ich habe die Dreharbeiten zu diesem Film in England sehr genossen, ich kam auf den Geschmack. Und als ich so zufrieden wieder nach Hause kam, schlug meine Frau mir vor, ich könnte doch in Deutschland, in Barcelona, Venedig oder in Paris drehen. Überall dort fühle ich mich wohl und werde gut aufgenommen. Denn in Europa unterstützt man die Künstler stark. In den Vereinigten Staaten ist Kino im wesentlichen eine riesige Industrie, das bedeutet große Studios. In Hollywood zählt nur das Geschäft. Wo 100 Millionen reingesteckt werden, sollen 500 Millionen rauskommen.
SPIEGEL: Sie dagegen fühlen sich eher wie ein europäischer Autorenfilmer?
Allen: Ja. Um die 50 Millionen Dollar kostet schon ein ganz durchschnittlicher Film in den USA. Ich bin bei meinen letzten drei Arbeiten mit weniger als 15 Millionen ausgekommen. In Europa geht das, da geben private Investoren das Geld und mischen sich nicht in meinen Job ein. Deshalb bin ich sehr daran interessiert, einmal einen nicht amerikanischen Film zu machen. Das könnte ich in Frankreich tun, weil ich etwas französisch spreche. Die Londoner Erfahrung war alles andere als abschreckend. Dann könnte ich die Filme gleich in Europa präsentieren. So war ich begeistert von der Idee, das Filmfestival von San Sebastián im vergangenen September mit "Melinda und Melinda" zu eröffnen.
Das Interview führte Helene Zuber