"Irina Palm" Handarbeit mit Herz
Sie hat sie in der Hand. Alle, wie sie da stehen. Die alten und die jungen Kerle, die Arroganten, die Schüchternen, die Hektischen wie die Langsamen. Mit verschämten Blicken, hängenden Schultern und heruntergelassenen Hosen liefern sie sich ihr aus und pilgern vor das "Glory Hole", hinter dem, wenigstens für die nächsten Minuten, das Glück wohnt.
Denn "Irina Palm" ist der Geheimtipp auf dem Kiez. "Die beste rechte Hand Londons" flüstern sich die Kunden begeistert zu. Auf der anderen Seite der Wand sitzt Maggie in der Kittelschürze, eine ältliche verwitwete Hausfrau aus einer Londoner Vorstadtsiedlung, und holt ihrer Kundschaft im Akkord einen runter.
Schon bald ist ihr Ruf größer als die eigene Scham, und Maggie findet in eine Routine, die ihr hilft, den Job mit wachsender, schon humoristischer Distanz zu erledigen. Sie dekoriert ihren Arbeitsplatz mit ein paar Kitschbildern, macht sich nett einen kleinen Arbeitstisch für Gleitmittel, Kleenex und Thermoskanne zurecht.
Das Geld braucht sie für den totkranken Enkel, der in einer australischen Spezialklinik behandelt werden muss. 6000 Pfund kostet die Therapie. 600 Pfund die Woche bringt ihr neues Gewerbe ein, von dem weder die Nachbarn noch die Familie etwas wissen darf.
Was Maggie, "die wichsende Witwe", so besonders macht, ist nicht so sehr ihre Geschichte, ihr kathedralengroßes Herz oder ihr kurioser Opfergang. Es ist Marianne Faithfull, die Rock-Ikone der Sixties, und die Art und Weise, wie sie sich liebevoll in dieser unscheinbaren, verdrucksten Maggie einrichtet.
Wie sie ihre vom Leben zusammengestauchte Figur mit wunderbaren Details in eine Königin von Soho verwandelt, das ist schlicht umwerfend. Und wenn aus heiterem Himmel auf diese Maggie, mit den stumpfen braunen Haaren, dem unvorteilhaftem lila Mantel und den ausgelatschten Wildlederstiefeletten wüste Gitarrenakkorde herunterscheppern, dann wird klar, dass die Protagonistin sich nicht nur an der Bürde ihres Witwendaseins abschleppt, sondern auch an der Biographie ihrer Darstellerin, die ungleich gamouröser vor vierzig Jahren die gleichen Straßen in Soho entlang stakste. Auf der Suche nach dem nächsten Schuss oder auch nur nach der Eingangstür zum neuesten angesagten Club.
Marianne Faitfull war kein Kind von Traurigkeit. Als Exhibitionistin bezeichnet sie sich selbst freimütig und allürenfrei in ihrer Autobiographie. Es machte ihr nichts aus, wenn Mick Jagger in der Öffentlichkeit und an durchgekoksten Herrenabenden mit ihr und ihrer üppigen Oberweite prahlte.
Sie war die unheilige Marianne des Rock'n'Roll und der Swingin' Sixties und dabei doch weit davon entfernt, sich zum willenlosen Ausstattungstück männlicher Fantasien machen zu lassen. Sie schreibt eigene Songs, erfindet ihre eigene Musik. Mick Jagger klaut sich gelegentlich ihre Texte. Faithfull protestiert nicht. Das Schicksal der Musen.
Mit "Working Class Hero" 1978 und "Broken English" geht Faithful verdientermaßen selbst in den Olymp der Rockstars ein. Es hat sich einfach so ergeben. Ehrgeiz war nie ihre Sache. Lieber ließ sie sich treiben; versank im Drogennebel, tauchte wieder auf, machte weiter, irgendwie. Manchmal heiratete sie auch, aus einer Laune heraus oder um sich einen kleinen Rest Bürgerlichkeit zu bewahren. Für alle Fälle, auch für den, dass das Leben weitergehen sollte, ohne Betäubung.
Später, als ihre Wiederentdeckung fast zum guten Ton der gehobenen Kulturszene gehört, taucht sie plötzlich überall auf. Bei Godard ("Made in USA"), bei Robert Wilson ("Black Rider"). Als Relikt einer Zeit, in der sie noch mit ihrem verstörenden Jungmädchenstimmchen "As Tears Go By" sang. Als Übriggebliebene für Leinwand und Bühne gebucht, die nicht mehr so recht in die Zeit passen will und jetzt herumsteht wie ein sperriges Möbel, von dem man noch nicht weiß, ob es irgendwann einmal als teure Retro-Ware gefragt sein wird oder zum Plunder gehört.
Doch nur selten hat Marianne Faithfull so berührt wie in "Irina Palm". Als alternde Mittelklassefrau hinter deren funkelnden Augen immer noch die genüssliche Provokation eines jungen Mädchens nistet.
Diese Mischung aus Ironie, Erfahrung und Ekel, mit der sich ihre Maggie von einer Kollegin in die Handarbeit einweisen lässt; dieser staksige, enge Gang auf unsäglichen Kreppsohlen, der langsam immer selbstbewusster und raumgreifender wird: Das hat eine Größe und Würde, mit der sich Marianne Faithfull nun auch für den Olymp der großen Leinwanddiven anstellen kann.