Filmjahr 2014 Oh Boyhood

Ein Hit bei Kritikern und Publikum zugleich: Richard Linklaters "Boyhood"
Foto: Universal1. Blockbuster mit Haltung sind die großen Gewinner.

Erlebte 2014 seinen Durchbruch: Chris Pratt in "Guardians of the Galaxy"
Foto: MarvelMit mittlerweile über 770 Millionen US-Dollar auf der Habenseite ist es schwer vorstellbar, aber vor seinem Kinostart im August galt Marvels "Guardians of the Galaxy" tatsächlich als Underdog. Hauptdarsteller Chris Pratt und die Geschichte von den unfreiwilligen Galaxie-Rettern waren einfach zu unbekannt, um nach dem Kalkül der Hollywood-Studios nennenswerte Gewinne einzufahren. Schließlich macht bei Warner, Disney und Co. nur noch die sogenannte pre-awareness, also die bereits vorhandene Bekanntheit einer Marke oder einer Geschichte, noch relevante Geldmengen locker.
Der Triumph von "Guardians of the Galaxy", der in den USA sogar der erfolgreichste Film des Jahres ist, straft diesen Ansatz Lügen: Manchmal braucht es einfach nur einen charmanten Darsteller wie Chris Pratt und einen gewitzten Regisseur wie James Gunn, um einen veritablen Kassenknüller zu produzieren. Und noch etwas sollte den Studios zu denken geben: Mit "Die Tribute von Panem - Mockingjay Teil 1" und "Captain America 2" haben sich zwei überaus düstere und explizit politische Blockbuster in den Jahrescharts platziert. Man muss also nicht die gefällige Mitte anpeilen, um die Massen für sich einzunehmen.

Wes Andersons "Grand Budapest Hotel": Kassenerfolg und Oscar-Kandidat
Foto: 20th Century Fox2. Das beweist auch der Erfolg des US-Independent-Kinos.
Wahrscheinlich muss sich Wes Anderson täglich mehrfach zwicken, um das glauben zu können: 170 Millionen US-Dollar hat sein Film "Grand Budapest Hotel" eingebracht, dazu gab es einen Silbernen Bären, vier Golden-Globe-Nominierungen, und wenn am 15. Januar die Oscar-Nominierungen bekannt gegeben werden, dürfte die Tragikomödie mit Ralph Fiennes in der Hauptrolle ebenfalls in mehreren Kategorien - unter anderem bestes Drehbuch und beste Regie - gewürdigt werden.
In beiden Rubriken ist ausgerechnet eine andere Ikone des US-Independent-Kinos Andersons schärfste Konkurrenz: Richard Linklater. Mit "Boyhood" hat der 54-Jährige sein Meisterwerk abgeliefert, einen Film, der trotz seiner komplexen Entstehungsgeschichte über zwölf Jahre hinweg mit seinen einfachen, aber deshalb so wahrhaftigen Einsichten in das Leben tief berührt. Wenn ein Jahr nach Matthew McConaughey, der einst in Linklaters "Dazed and Confused" (1993) sein Schauspieldebüt gab, nun Linklater selbst mit einem Oscar ausgezeichnet wird, könnte man tatsächlich sagen: alright, alright, alright.
3. Doch in der Mitte fehlt es an interessanten Frauenfiguren.

Julianne Moore brilliert in "Still Alice" als an Alzheimer erkrankte Professorin.
Foto: BSM StudioJulianne Moore. Die auf jeden Fall. Und Reese Witherspoon. Aber ansonsten? Man kann es kaum glauben, aber im Jahr 2014 hat es im Mainstream-Kino nicht genug gehaltvolle Frauenrollen gegeben, um die Rubrik "Beste Hauptdarstellerin" bei den Oscars mit fünf interessanten Anwärterinnen zu füllen. Während bei den Männern das Feld jede Woche gedrängter wird - gerade macht David Oyelowo als Martin Luther King Jr. aus "Selma" den bisherigen Favoriten Benedict Cumberbatch ("The Imitation Game") und Eddie Redmayne ("Die Entdeckung der Unendlichkeit") mächtig Konkurrenz -, sieht es bei den Frauen so trübe aus, dass es am Ende sogar für eine Nominierung von Jennifer Aniston für die Tragikomödie "Cake" reichen könnte.
Die Gründe für diese Schieflage sind vielschichtig. Zum einen führen Männer mit überwältigender Mehrheit Regie - und ob sie nun über ein Mikrobudget verfügen oder aus den Blockbuster-Vollen schöpfen können: Sie erzählen Geschichten mit Männern in der Hauptrolle. Aber selbst wenn Frauen ausnahmsweise an Prestigeprojekte herangelassen werden - wie etwa Angelina Jolie mit "Unbroken" oder Ava DuVernay mit "Selma" -, stellen diese Männerfiguren in den Mittelpunkt. Es ist fatal: Wo Hollywood die Fantasie für fiktionale Stoffe ausgeht und sich nur mit historischen Biopics - und das ist die Mehrheit der Oscar-relevanten Filme in diesem Jahr - zu helfen weiß, wird eine sexistische Geschichtsschreibung, die sich allein an den Heldentaten einzelner Männer orientiert, reproduziert.
Doch auch ein struktureller Wandel hat zur Krise der guten Frauenfiguren im Kino geführt: Das Publikum, das erwachsene Unterhaltung jenseits von Indie-Nische und Superhelden-Krach will, wendet sich immer mehr dem Serienfernsehen zu. Und dort bekommt es mit Shows wie "Orange is the New Black", "The Good Wife" oder "Orphan Black" genau das geboten, was das Kino vermissen lässt: komplexe Frauenfiguren, die gleichermaßen faszinieren wie unterhalten.
4. Reese Witherspoon hat jedoch einen Ausweg gefunden.

Reese Witherspoon im Selbstfindungsdrama "Der große Trip - Wild"
Foto: Twentieth Century FoxAls "Natürlich blond" wurde Reese Witherspoon einst berühmt, und für ihre Rolle als June Carter gewann sie 2005 den Oscar. Doch als Witherspoon vor drei Jahren nach interessanten Kinorollen Ausschau hielt, hatte Hollywood nichts für die Mittdreißigerin parat. Zusammen mit Bruna Papandrea gründete Witherspoon deshalb die Produktionsfirma Pacific Standard und optionierte zwei Bücher. Das erste war der Thriller "Gone Girl" von Gillian Flynn, der unter der Regie von David Fincher 2014 zum Kassenknüller wurde. Das zweite ist "Wild", Cheryl Strayeds gefeierter autobiografischer Sachbuch-Bestseller.
Unter der Regie von Jean-Marc Vallée ("Dallas Buyers Club") spielt Witherspoon Strayed, die nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter in die Drogensucht abrutscht und mit 26 Jahren vor den Scherben ihrer Ehe steht. Um eine neue Perspektive auf ihr Leben zu gewinnen, macht sich Strayed auf eine mehrmonatige, extrem strapaziöse Wandertour entlang der US-Westküste, die sie in eindrücklichen Tagebucheinträgen festhält (Kinostart: 15. Januar).
Für Witherspoon bedeutet die Rolle nicht nur einen gelungenen Imagewechsel, da man das ehemalige American sweetheart bei Drogenkonsum und freizügigem Sex sieht, sondern auch das Ticket zu den Oscars: Ihre Nominierung als beste Hauptdarstellerin gilt als sicher, und vielleicht reicht es auch noch als Produzentin in der Rubrik "Bester Film". So hat Witherspoon bewiesen, dass es sich als Frau in Hollywood nicht lohnt, auf das richtige Drehbuch zu warten. Man muss es selbst finden, produzieren - und am besten gleich zweimal so goldrichtig liegen wie Witherspoon 2014.
5. Das Arthouse-Kino hat indes die Filmkunst wiederentdeckt.

Scarlett Johansson als todbringende Außerirdische in "Under the Skin"
Foto: SenatorWas Hollywood der 3D-Effekt ist, war dem europäische Arthouse-Kino in den vergangenen Jahren der Drei-Stunden-Film: Ein Allzweckmittel, um den Abwärtstrend bei den Umsätzen mit Sonderaufschlägen zu kompensieren. Dabei kamen wunderbar episch erzählte Filme - jüngst zum Beispiel "Winterschlaf" - heraus. Doch in diesem Jahr hat sich das Arthouse-Kino endlich wieder darauf besonnen, auch visuell zu experimentieren. Zwei der besten Filme des Jahres, Pawel Pawlikowskis "Ida" und Xavier Dolans "Mommy", haben das außergewöhnliche 1:1-Bildformat gewählt, um ihre Figuren stärker in den Fokus zu nehmen und so eine bestechende Form der erzählerischen Konzentration gefunden.
Trotz Low Budget hat Jonathan Glazer in seinem Film "Under the Skin" einige der besten Spezialeffekte des Jahres für eine bizarre Version des Limbus und eine besonders verstörende Todesart aufgeboten. Und trotz seiner 84 Jahre hat Jean-Luc Godard mit seinem Essayfilm "Adieu au Langage" bewiesen, dass 3D auch im Kunstkino einen Platz hat. Dass ausgerechnet diese zwei Filme in Deutschland keinen Verleih gefunden haben, zeigt nur leider, dass sich die neu erweckte Lust am Experimentieren noch nicht in einer neuen Aufgeschlossenheit in der deutschen Kinobranche niedergeschlagen hat. Man kann für 2015 nur hoffen. Es könnte aber auch umsonst gewesen sein.