Kino-Märchen "Baikonur" Mit der Rost-Rakete ins galaktische Glück

Ein deutscher Wunderknabe hebt ab: Regisseur Veit Helmer lässt in seinem Film "Baikonur" ein Liebespaar von einem Weltraumbahnhof in eine Märchenwelt entschweben. Das ist ganz großer Kinozauber - mit einer himmlischen Hauptdarstellerin.
Von Jörg Schöning
Kino-Märchen "Baikonur": Mit der Rost-Rakete ins galaktische Glück

Kino-Märchen "Baikonur": Mit der Rost-Rakete ins galaktische Glück

Foto: X-Verleih

Veit Helmer ist der Freischwebende unter den deutschen Filmemachern. Zwar lebt der gebürtige Hannoveraner lange schon in der Hauptstadt, doch mit den spröden Sozialdramen der sogenannten Berliner Schule verbindet ihn nichts. Auch auf einen "Tatort" Helmers wird man wohl vergeblich warten. Und dass er jemals eine Sternstunde der deutschen Geschichte als Primetime-Edutainment verfilmt, ist ebenso unwahrscheinlich.

Denn Veit Helmer gilt als Märchenerzähler, sein filmisches Werk als wirklichkeitsfern. Dabei lässt sich der Regisseur doch wie kaum ein anderer auf die Wirklichkeit ein - nur dass es sich dabei um Realitäten handelt, für die hierzulande ansonsten niemand ein Sensorium besitzt. Seitdem er - noch vor dem Fall der Mauer - die Ost-Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" besuchte, zieht es Helmer nach Osten. Seinen ersten Spielfilm "Tuvalu" (1999) drehte er in einem maroden bulgarischen Schwimmbad. "Absurdistan" (2008) entstand in abgelegenen Kaukasus-Dörfern Aserbaidschans, "Baikonur" nun an den Originalschauplätzen in Kasachstan.

Das sind alles Orte, die fürs Filmemachen nicht geschaffen sind. Und weil Veit Helmer immer auch sein eigener Produzent ist, muss er die Logistik für seine Arbeit zuvor selbst erschaffen. Während also seine Berliner Kollegen zum x-ten Mal eine renovierte Eigentumswohnung in Kreuzberg oder Mitte ausleuchten, verhandelt Helmer mit Dorfpatriarchen, Reitervölkern oder - wie bei "Baikonur" unerlässlich - mit dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB, um überhaupt eine Drehgenehmigung zu erhalten.

Wenn er dann mit seinen internationalen Filmteams anrückt, stellt sich ganz von alleine ein, wovon seine Filme in ihrem Kern handeln: Konflikte zwischen Tradition und Moderne, Konfrontationen zwischen ursprünglicher Lebensweise und fortgeschrittener Technologie.

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So ist es auch in "Baikonur". Zwei Welten sind es, die der Film aufeinander loslässt: hier die kasachische Steppe und dort der benachbarte Weltraumbahnhof, auf dem vor 50 Jahren die Geschichte der bemannten Raumfahrt begann. Gagarin hieß der erste Mensch im All, und Gagarin nennen sie auch den jungen Funker Iskander, der in seiner Jurte davon träumt, ein Kosmonaut zu werden. Einstweilen jedoch führt er die Dorfbewohner nach den Weltraumstarts zu abgestoßenen Raketenstufen, um diese als Schrott zu verwerten.

Dann aber geht aus dem Himmel über der Jurte eine Raumkapsel nieder, in der sich eine französische Weltraumtouristin befindet - und nun kommt Gagarin in hautnahen Kontakt mit der Moderne. Er nimmt die bewusstlose Schöne mit in sein Dorf und verliebt sich in sie.

Gagarins Glück währt so lange, wie Julie sich an ihre Herkunft nicht erinnert. Doch als ihr Gedächtnis wieder funktioniert, hält sie nichts in dieser Wüstenei. Nur allzu gern kehrt sie zurück nach Baikonur. Von einer eifersüchtigen Jugendfreundin verfolgt, verlässt Gagarin daraufhin sein kasachisches Dorf, um auf der Raketenbasis eine Anstellung zu suchen und wird so zu einem Wanderer zwischen den Welten.

Briefpost im Weltall

Welten trennen auch die beiden Hauptdarsteller: Alexander Asochakov, der den schüchternen, naiven, erdverwachsenen Gagarin überaus glaubhaft spielt, stammt aus Chakassien, einer Zentralregion Sibiriens. Die überirdisch schöne, mondäne Himmelsgestalt Julie ist Marie de Villepin auf den makellosen Leib geschneidert - die Tochter des ehemaligen französischen Premierministers ist ein international gefragtes Fotomodell. Und tatsächlich gewinnt dieses in einem ganz und gar künstlichen Kosmos angesiedelte Märchen durch die Besetzung mit Darstellern aus derart unterschiedlichen Universen so etwas wie Authentizität.

Der Film ist pure Phantasie, keine Frage. Und doch stößt "Baikonur" in eine Wirklichkeit vor, die alles andere, was üblicherweise auf deutschen Leinwänden als attraktive location durchgeht, weit unter sich lässt. Zu den schönsten Aufnahmen im Film gehören Szenen aus der Schwerelosigkeit. Und sie sind echt! In ihnen gleitet Marie de Villepin so anmutig durch den Raum, dass sie das Rechteck der Leinwand glatt sprengt. Aus den nüchternen Formatvorgaben gegenwärtigen Filmschaffens bricht "Baikonur" mutig aus, indem sich Veit Helmer auf die ursprünglichen Beweggründe für "bewegte Bilder" bezieht: Das Publikum soll im Kino zum Staunen gebracht, ja womöglich verzaubert werden.

In diesem Sinne ist "Baikonur" ein naives Kino. Das gleichwohl nur unter den Voraussetzungen eines international vernetzten Weltkinos entstehen kann. Diesen Widerspruch, den ja im Grunde jeder Film in sich trägt - mit den jeweils modernsten und effizientesten Mitteln die emotionalen Tiefenschichten im Zuschauer anzusprechen -, macht der Film selbst zum Thema.

Wiederholt setzt er vermeintlich veraltete Verständigungsmittel und Medien ins Bild, wie Gagarins vorsintflutliche Funkanlage, Julies im Orbit gestempelte Briefmarken und alte, schwarzweiße Dokumentaraufnahmen von frühen Aufbrüchen ins All, die doch alle das Gleiche signalisieren: den Wunsch, in fremde Welten vorzudringen und sie miteinander zu verbinden.

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