Brutales Meisterwerk "Only God Forgives" Auf die Fresse

Abgehackte Hände, geschändete Leichen, gedemütigte Söhne: "Only God Forgives" wurde bei der Premiere in Cannes ausgebuht. Und der Rache-Thriller von "Drive"-Macher Nicolas Winding Refn ist tatsächlich ungenießbar. Aber genau deshalb einer der sehenswertesten Filme des Jahres.
Brutales Meisterwerk "Only God Forgives": Auf die Fresse

Brutales Meisterwerk "Only God Forgives": Auf die Fresse

Foto: Tiberius Film

"Sind das alles Mädchen?", fragt Billy, während er auf das Schaufenster voller Prostituierter schaut. Die Frage ist berechtigt, denn Billy befindet sich in Bangkok, der weltweiten Transsexuellenhochburg. "Ich will eine 14-Jährige ficken", spezifiziert er seine Wünsche gegenüber dem Geschäftsführer des Bordells. Später wird er dessen jüngste Tochter vergewaltigen und töten und damit eine unaufhaltbare Welle der Gewalt auslösen, in deren Folge Köpfe abgehackt, Leichen geschändet und überhaupt Ströme von Blut vergossen werden.

Die Szene vor dem Schaufenster ist aber auch noch aus einem anderen Grund entscheidend. Sie führt die zwei zentralen Motive von "Only God Forgives" ein: Den begehrenden Blick und die Frage nach der wahren Identität seiner Figuren. Besonders Letzteres lässt Autor und Regisseur Nicolas Winding Refn virtuos beiläufig eskalieren. Wer ist hier Held, wer Gegenspieler? Wer Begehrender, wer Begehrter? Wer Mann, wer Frau? Wer Gott, wer Teufel?

"Only God Forgives" bietet so wenig Orientierung, Sicherheit und Geschlossenheit, dass man daran schier verzweifeln und, wie es viele Kritiker bei der Premiere in Cannes getan haben, den Film herzhaft ausbuhen kann. Wer aber Frustration als das Erzählprinzip des Films akzeptiert, kann sich nicht nur mit der zwiespältigen Seherfahrung versöhnen. Er kann aus ihr einen ganz eigenen Lustgewinn schöpfen.

Ryan Gosling spielt Billys jüngeren Bruder Julian, einen US-Amerikaner, der vor zehn Jahren einen Mord beging und daraufhin nach Thailand floh. Dort hat er sich mittlerweile einen gut laufenden Boxclub aufgebaut, der jedoch nur Tarnung für den noch besser laufenden Drogenhandel seiner Mutter Crystal (Kristin Scott Thomas) ist, die das Geschäft aus den USA steuert.

Der zweifelnde Rächer versagt

Alles scheint reibungslos zu laufen, doch dann wird Billy ermordet: Der örtliche Polizeichef (Vithaya Pansringarm) hat den Vater der getöteten 14-Jährigen in einen Raum mit Billy gesperrt und so lange gewartet, bis der Vater des Opfers selbst zum Täter geworden war und Billy den Schädel eingeschlagen hatte.

Crystal fliegt sofort nach Thailand und versucht, Julian anzustacheln, Billys Mörder aufzuspüren und zu töten. Doch Julian ist - ähnlich wie das Kinopublikum - verunsichert. Gibt es angesichts des von Billy getöteten Mädchens für ihn nicht eher etwas zu sühnen als zu rächen? Und was ist mit dem Polizeichef? Hat der nicht genauso viel Schuld wie Billy auf sich geladen, als er zum Mord anstiftete?

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"Only God Forgives": Wer ist Teufel, wer ist Gott?

Foto: Tiberius Film

Wie leicht hätte es sich Winding Refn machen und nahtlos an den Erfolg seines raffinierten Meisterwerks "Drive" (2011) anschließen können. Die Versatzstücke dafür schien er versammelt zu haben: Wieder Ryan Gosling in der Hauptrolle, wieder ein Soundtrack von Cliff Martinez, dazu das schillernde Bangkok und ein zwielichtiger Boxclub als motivreiche Schauplätze.

Doch Winding Refn ist kein fanboy pleaser wie Quentin Tarantino, der seinen Fans keinen Wunsch nach Blut, Pointen und Stilbrüchen abschlagen kann und dessen Filme deshalb immer barocker wuchern. Auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner kreativen und finanziellen Unabhängigkeit angekommen, erlaubt sich Winding Refn das abrupte Innehalten und die Rückschau auf das eigene Werk.

"Ich mache Filme über die Dinge, die mich reizen, immer ausgehend von meinen Instinkten", hat er im Interview mit SPIEGEL ONLINE gesagt. "Am besten lässt sich mein Vorgehen wohl als Pornografie beschreiben." In diesen Sätzen steckt ein Schlüssel zu "Only God Forgives", denn der Film ist voller fetischhafter Stilisierungen und Verheißungen. Immer wieder leuchtet in den Nachtclubs und Kellergewölben rotes Licht auf und lässt die Gesichter und Körper glühen.

Keine Chance auf Triebabfuhr

Gleichzeitig werden damit aber auch falsche Fährten gelegt, denn zum Höhepunkt wird hier nichts gebracht. Erzählstränge führen beständig ins Nirgendwo, Kämpfe enden ohne Showdown, Blicke werden nicht gehalten, Affären bleiben ohne Sex. Und wer trotzdem einmal zulangt, dem werden zur Strafe die Hände abgehackt.

Letztlich tut Winding Refn nichts anderes, als sich - und seinem Publikum - die Triebabfuhr zu versagen. "Only God Forgives" ist ein Film ohne Held, eine Geschichte ohne Pointe, ein Thriller ohne Thrill. Dadurch treten die libidinösen Verstrickungen zwischen dem Film, seinen Machern und seinem Publikum umso deutlicher hervor. Was will man von einem Film geboten bekommen? Und wie geht man damit um, wenn er einem diese Wünsche nicht erfüllt? Kann aus der Enttäuschung auch etwas Produktives erwachsen?

Es ist bemerkenswert, dass Winding Refn einen so querstehenden Film just zu dem Zeitpunkt dreht, an dem er zum ersten Mal in seiner wechselhaften Karriere womöglich jeden Casting- und Budget-Wunsch erfüllt bekäme. Nachdem "Only God Forgives" in Cannes so polarisierte, ist es wahrscheinlicher, dass ein paar Türen für ihn wieder zugeschlagen sind. Für den Meister der Frustration, als der sich Winding Refn mit diesem Film beweist, dürfte das kein Problem sein. Vielleicht sogar das Gegenteil.

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