Kinofilm "Nader und Simin" Beiläufig großartig

Das Wichtigste zuerst: Einer der besten Filme des Jahres startet. Der Berlinale-Gewinner "Nader und Simin - eine Trennung" ist Krimi und Ehedrama, erzählt von Krankheit und Vater-Tochter-Beziehung. Und, ach ja, nebenbei thematisiert er das Leben unter der Knute des iranischen Regimes.
Kinofilm "Nader und Simin": Beiläufig großartig

Kinofilm "Nader und Simin": Beiläufig großartig

Foto: Alamode Films

Der Vater spricht kaum noch, es steht jeden Tag schlechter um ihn, Alzheimer zerstört sein Gehirn. Die Ehefrau hat die Wohnung verlassen, will sich trennen, sie hält es nicht mehr aus, will die Scheidung. Jetzt ist auch noch die Pflegerin weg, er hat sie hinausgeworfen, weil sie den Vater ans Bett gefesselt und die Wohnung verlassen hatte, wahrscheinlich hat sie auch noch Geld gestohlen, also pflegt er den Vater alleine, hat ihn im Rollstuhl ins Badezimmer geschoben, duscht ihn ab, schrubbt ihm den Rücken, da bricht auch Nader (Peyman Moadi) zusammen, beugt sich über den alten Mann und weint.

Diese Szene, eine der traurigsten und stärksten in dem Film "Nader und Simin - eine Trennung", könnte sich überall abspielen auf der Welt, überall, wo Menschen leben, die eine Familie haben und Verantwortung tragen für einen alten Menschen und zerrissen sind zwischen dieser Verantwortung und dem Bedürfnis nach etwas eigenem Glück, die verbissen gegen die bittere Realität ankämpfen müssen, zusammenbrechen, weitermachen, weil es nicht anders geht. Die Szene könnte überall spielen, und selbst wenn sie, sagen wir, in einer Stadtwohnung in Montreal aufgenommen sein würde, sie wäre dennoch großartig gespielt, wie so viele, eigentlich alle Szenen in diesem Film, so intensiv, dass allein das schon ausreichen würde, diesen Film auszuzeichnen.

Zwischen Starrsinn und Aufrichtigkeit

Die Pflegerin, die Nader unsanft vor die Türe gesetzt hat, Razieh heißt sie, war schwanger. Nach dem Rauswurf kommt Razieh (Sareh Bayat) ins Krankenhaus, verliert ihr Kind. Nader sagt, er habe sie zwar gestoßen, aber nicht so heftig, nicht so brutal, wie sie behauptet. Nader sagt, er wusste nicht, dass sie schwanger gewesen sei. Nader sagt, er trage keine Schuld.

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Iranisches Ehedrama: "Nader und Simin - eine Trennung"

Foto: Alamode Films

Und so entwickelt sich ein Kriminalfall: Was haben die Nachbarn gesehen? War Nader dabei, konnte er zuhören, als Razieh der Lehrerin von Naders Tochter erzählte, dass sie ein Kind erwarte? Nader bleibt bei seiner Version, er kann gut reden, ganz im Gegensatz zu Razieh, einer einfachen Frau, und deren Mann Hodjat (Shahab Hosseini), einem arbeitslosen Schuster. Doch es bleiben Zweifel. Vor allem Termeh (Sarina Farhadi), Naders Tochter, ist unsicher, ob sie dem Vater glauben soll, sie stellt unbequeme Fragen, lässt sich nicht mit einfachen Erklärungen abspeisen. Er hat sie so erzogen, ist stolz auf ihren wachen Geist, aber nun richtet sich dieser wache Geist gegen den Vater, und der ist zerrissen zwischen dem Willen, den Rechtsstreit zu gewinnen und dem Willen zur Aufrichtigkeit gegenüber seiner Tochter.

Schon die Konstruktion dieses Krimis, der sich aus einer kleinen, zunächst nebensächlich scheinenden Situation ergibt, würde den Film sehenswert machen, ebenso der dargestellte Konflikt zwischen der gebildeten Mittelschicht, deren Vertreter sich durchzusetzen wissen und den verarmten Angestellten, denen es nicht gegeben ist, eloquent für ihre Rechte einzutreten. Schon die Dialoge zwischen Nader, der zunehmend gestresst ist und dabei immer darum ringt, liebevoll zu bleiben, und seiner kritischen Tochter, erzählen eine so anrührende Vater-Tochter-Geschichte, dass andere Regisseure allein diese zum Thema eines ganzen Filmes machen würden.

Die Liebe in den kleinen Gesten

Und schließlich die Ehefrau Simin (Leila Hatami): Es ist nicht so, dass sie Nader nicht mehr lieben würde, aber sie hält die Enge nicht mehr aus, und wohl auch nicht mehr die verbissene Verstocktheit ihres Mannes. In die belastete Ehe hat sich Sprachlosigkeit geschlichen, keiner der beiden ist fähig, Zugeständnisse zu machen, dabei ist es doch offensichtlich, dass sie sich lieben. Man sieht es an jedem Blick, den sie verstohlen auf den und die andere werfen, an den kleinen Gesten, an der Solidarität trotz allem. Es sind diese kleinen, versteckt gespielten Andeutungen, die zeigen, welch hervorragende Schauspieler der Regisseur Asghar Farhadi für seinen Film engagiert hat und wie intensiv er mit ihnen arbeitet, um Naders und Simins Liebe und Krise glaubhaft zu machen.

Bis zur letzten Sekunde der 123 Minuten sitzt man im Kino und hofft, dass die beiden wieder Worte füreinander und zusammen finden, weil es doch so falsch ist, dass sie sich trennen wollen. Schon allein als intensiv inszeniertes und glaubhaft gespieltes Beziehungsdrama hätte dieser Film Preise verdient, hätte zu Recht den "Goldenen Bären" auf der diesjährigen Berlinale gewonnen und zwei Silberne Bären für das beste weibliche und männliche Ensemble dazu.

Aber "Nader und Simin" spielt in Iran, einem unfreien Land, und die Art und Weise, wie Asghar Farhadi die Situation dort als Hintergrund einsetzt und all die in seinem Film dargestellten Konflikte zu Metaphern werden lässt für die politische Unfreiheit, ist meisterhaft, gerade weil es an keiner Stelle aufdringlich geschieht.

Darf eine fremde Frau einen alten Mann waschen?

Wie beiläufig erfahren wir etwas über die alltäglichen Lebensumstände unter der Herrschaft der Mullahs, etwa, als sich der kranke Vater einnässt und sich die Pflegerin nicht traut, ihn zu säubern, ohne sich vorher religiösen Rat einzuholen, ist sie doch eine Frau alleine mit einem Mann. Wie beiläufig und ganz normal wird erzählt, wie die streitenden Parteien auf der Polizeistation der Willkür des Untersuchungsbeamten ausgeliefert sind, ein falsches Wort, und sie landen in Haft. Und warum kann Nader behaupten, er habe nicht bemerken können, dass Razieh schwanger war? Weil sie selbstverständlich Schleier trägt und wallende Gewänder, die den Blick auf den Körper der Frau unmöglich machen.

Die erste Szene des Filmes spielt vor dem Scheidungsrichter, wir sehen Nader und Simin streiten: Sie will die Trennung, weil die Familie endlich ein Ausreisevisum bekommen hat, es läuft aber in vierzig Tagen aus, die Zeit drängt. Nader will nicht mitkommen, will den kranken Vater nicht im Stich lassen. Was soll mit der Tochter geschehen? Soll sie ihre Mutter begleiten und im Ausland aufwachsen? Oder mit dem Vater in Iran bleiben? "Ich möchte nicht, dass meine Tochter unter diesen Umständen aufwächst", sagt Simin. "Welche Umstände?", fragt der Scheidungsrichter.

Der richtige und der beste Film

Die Berlinale 2011 stand ganz im Zeichen Irans. Der kritische Regisseur Jafar Panahi hätte in der Jury sitzen sollen, wurde aber vom Regime nicht aus dem Land gelassen, bei der Eröffnungsveranstaltung stand demonstrativ ein leerer Stuhl für ihn auf der Bühne. So wäre es für die Jury ein Leichtes gewesen, zum Abschluss einen iranischen Film auszuzeichnen, als politisches Statement, als Zeichen, man hätte dieser Entscheidung guten Gewissens applaudieren können, obwohl sie vielleicht ein wenig plakativ gewesen wäre. Man hätte applaudiert, dabei aber im Stillen bedauert, dass nur der richtige Film gewonnen hat, aber nicht der beste.

"Nader und Simin - eine Trennung" hätte ein gut gemeintes Werk aus einem unterdrückten Land sein können, ausgezeichnet aus politischer Korrektheit und interessant nur für Spezialisten der iranischen Filmkunst. Tatsächlich aber ist "Nader und Simin" der beste Film, der 2011 auf der Berlinale gelaufen ist, ein Film für alle, die gutes, ernsthaftes Kino lieben. Wie schön.

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