

Cannes - Die Liebesszenen des Dramas "La vie d'Adèle" gehen an die Grenzen dessen, was man pornofremden Darstellerinnen im Kino gemeinhin abverlangt - jetzt ist das Drama mit einem der wichtigsten Filmpreise der Welt ausgezeichnet worden: Die Geschichte zweier liebender Frauen hat in Cannes die Goldene Palme für den besten Film gewonnen. Das gab die Jury am Sonntagabend zum Abschluss der 66. Festspiele in der südfranzösischen Stadt bekannt.
Es ist der erste Cannes-Preis für den französisch-tunesischen Regisseur Abdellatif Kechiche. Erstmals in der Geschichte der Filmfestspiele wurde die Auszeichnung nicht nur an den Regisseur, sondern auch an die Schauspieler vergeben. Die Hauptdarstellerinnen des Films, Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux, bekamen ebenfalls eine Auszeichnung überreicht - und wurden vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert.
Kechiche sagte, er wolle den Film und den Preis der "wunderbaren Jugend Frankreichs" widmen, die ihm viel über den "Geist der Freiheit" beigebracht habe - und der "Jugend der tunesischen Revolution, für ihr Streben danach, frei zu leben, sich frei auszudrücken und frei zu lieben".
Der 52-Jährige erzählt in dem sensiblen Drama die Geschichte zweier Frauen, die schicksalhaft ineinander vernarrt sind. Der Film dreht sich um die zunächst erst 15-jährige Schülerin Adèle (Adèle Exarchopoulos), die französische Literatur liebt und sich berufen fühlt, Lehrerin zu werden. Sie glaubt an Begabungen, die einem Menschen bestimmte Lebenswege vorschreiben, und sie glaubt an Liebe auf den ersten Blick.
Die erfährt sie, als sie der schon etwas älteren Kunststudentin Emma (Léa Seydoux) begegnet. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich erst eine heißblütige Romanze, schließlich eine erwachsene Liebesbeziehung mit gemeinsamer Wohnung und Dinnerpartys im Garten.
Es sind letztlich keine Fragen der gleichgeschlechtlichen Liebe, sondern die verschiedenen Klassen, aus denen sie stammen, die zur schmerzhaften Trennung führen: Emmas von persönlichem Ehrgeiz getriebener libertärer-intellektueller Lifestyle verträgt sich auf Dauer nicht mit der bodenständigen Adèle, die ihren Lebensinhalt darin sieht, kleinen Kindern in der Grundschule nicht nur Grammatik und Rechtschreibung, sondern auch ein Stück Lebenserfahrung zu vermitteln.
Dass ein Film über Frauenliebe den Hauptpreis erhält, lässt sich auch als politische Botschaft der Jury interpretieren: Am Sonntag protestierten in Paris erneut Zehntausende gegen das eine Woche zuvor in Kraft getretene Gesetz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Sie wollen, dass die Ehe-Öffnung und Gleichbehandlung zurückgenommen wird. Am Mittwoch soll Frankreichs erste echte Homo-Ehe geschlossen werden - in Montpellier wollen zwei Männer heiraten.
Der zweitwichtigste Preis in Cannes, der Große Preis der Jury, ging in diesem Jahr an "Inside Llewyn Davis" von Ethan und Joel Coen. In der heiter-melancholischen Musik-Komödie feiern die amerikanischen Regie-Brüder ("No Country For Old Men") die Folkszene im New Yorker Greenwich Village und zeichnen das Porträt eines zwischen Kunst und Kommerz zerrissenen Sängers.
Als beste Schauspielerin wurde Bérénice Bejo ("The Artist") für ihre Rolle in "Le Passé" ausgezeichnet. In dem Drama erzählt der iranische Regisseur und Oscar-Gewinner Asghar Farhadi ("Nader und Simin") die Geschichte des Iraners Ahmad (Ali Mosaffa), der aus Teheran nach Paris zurückkehrt, um sich von seiner französischen Frau Marie, gespielt von Bejo, scheiden zu lassen. Der Film galt neben "A Touch of Sin" als einer der ernstzunehmendsten Anwärter auf die Goldene Palme.
Den Regie-Preis der Jury um Steven Spielberg bekam in diesem Jahr der Mexikaner Amat Escalante für seinen Film "Heli". Als bester Schauspieler wurde Bruce Dern in "Nebraska" des US-Regisseurs Alexander Payne ausgezeichnet. Der Preis der Jury ging an "Like Father, Like Son" von Kore-Eda Hirokazu.
Im vergangenen Jahr hatte "Amour" ("Liebe") des österreichischen Regisseurs Michael Haneke die Goldene Palme gewonnen.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Fallen sich auf der Bühne in die Arme: Regisseur Abdellatif Kechiche und seine beiden Hauptdarstellerinnen Lea Seydoux und Adèle Exarchopoulos. Sie wurden am Sonntag für den Film "La vie d'Adèle" mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet.
Es ist das erste Mal in der Geschichte der Filmfestspiele, dass der Preis nicht nur an den Regisseur, sondern auch die Schauspielerinnen vergeben wurde.
Seydoux und Exarchopoulos spielen in dem sensiblen Drama ein Liebespaar - auf der Bühne in Cannes gab es einen kurzen Kuss auf die Wange. Anders im Film: Der hatte durch seine expliziten Sex-Szenen für Aufsehen gesorgt.
Nach der Verleihung der Goldenen Palme, die den Abschluss der 66. Filmfestspiele von Cannes markiert, posieren die Gewinner noch mit der Hollywood-Schauspielerin Uma Thruman (l.).
Sie wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet: Bérénice Bejo. In "Le Passé" von Oscar-Preisträger Asghar Farhadi ("Nader und Simin") spielt die Französin eine Familienmutter zwischen Trennung und Zweifel.
Für seine Rolle in dem Roadmovie "Nebraska" wurde Bruce Dern als bester männlicher Darsteller geehrt. Der 76-jährige Hollywood-Veteran war bei der Zeremonie in Cannes allerdings nicht anwesend, Regisseur Alexander Payne nahm für ihn den Preis entgegen.
Auch die weiteren Gewinner stehen noch einmal gemeinsam auf der Bühne. Den Großen Preis der Jury, der auch Nicole Kidman und Christoph Waltz angehören, bekam "Inside Llewyn Davis" von den Coen-Brüdern.
Der aus Tunesien stammende Regisseur und zweifache César-Gewinner Abdellatif Kechiche liefert seine Lovestory "La vie d'Adéle" nicht dem Voyeurismus aus.
Der Autorenkinostar Léa Seydoux (links) und die Neuentdeckung Adèle Exarchopoulos begeistern in Kechiches Liebesfilm "La vie d'Adèle, Chapitres 1 & 2" als schicksalhaft ineinander vernarrtes Pärchen.
Er habe nichts "Militantes" über Homosexualität zu erzählen, sagte Kechiche in einem Interview. "Ich fühlte eher, dass ich eine Liebesgeschichte wie jede andere erzähle, mit all der Schönheit, die das beinhaltet."
Alexander Payne zeigte seinen Vater-Sohn-Roadtrip "Nebraska" mit Altstar Bruce Dern in einem grandiosen Auftritt als störrischer, halbdementer Greis Woody Grant, der den Hauptgewinn einer Postwurfsendung persönlich abholen will. Sein Sohn David (Will Forte) erbarmt sich des Seniors, packt ihn in sein Auto und erlebt mit seinem Dad eine nostalgische, teilweise urkomische Reise in dessen Vergangenheit.
Am Set: Regisseur Alexander Payne und Hauptdarsteller Bruce Dern. "Nebraska" ist Paynes erster Film seit dem mehrfach Oscar-nominierten Familien-Drama "The Descendants".