Lahme Bestseller-Verfilmungen Im Würgegriff der Werktreuen

Rooney Mara als "Lisbeth Salander" in "Verblendung": Rendezvous nach 80 Minuten
Foto: Sony PicturesEs gibt Menschen, die fahren jedes Jahr in den gleichen Ort, um dort Urlaub zu machen, sie gehen immer ins gleiche Hotel, in das gleiche Zimmer, gehen jeden Morgen etwa um die gleiche Zeit in den Frühstücksraum und freuen sich schon auf dem Weg dorthin, dass sie genau das Gleiche erwartet wie in all den Jahren zuvor.
Es gibt Menschen, die nicht wollen, dass sich irgendetwas ändert. Diese Menschen bestimmen mittlerweile, was wir im Kino zu sehen bekommen. Als der Drehbuchautor Steven Zaillian vor einigen Monaten in einem Interview darüber Auskunft gab, wie er Stieg Larssons Bestseller "Verblendung" adaptiert hat, riet er den vielen Millionen Fans des Romans, sich warm anzuziehen, am Ende des Films, der vergangene Woche in Deutschland gestartet ist, gebe es eine große Überraschung. Das klang aufregend. Was hatte er wohl geändert? Hatte er aus dem Serienkiller eine Frau gemacht? Hatte er Wennerström sein ergaunertes Vermögen an Unicef spenden lassen? Lisbeth in den Ballettunterricht geschickt?
Tatsächlich besteht die sagenhafte Überraschung darin, dass Mikael Blomkvist nicht, wie im Roman und in der schwedischen Erstverfilmung, nach Australien reisen muss, um das Rätsel der Familie Vanger zu lüften, sondern nur nach London. Das ist schön für Blomkvist, Flüge nach Australien sind die Hölle; das ist gut für die Produzenten, ein zusätzlicher Dreh in Down Under geht ins Geld. Für den Film hat es den Vorteil, dass die Frau, nach der Blomkvist sucht, viel näher und viel präsenter ist, als er und der Zuschauer denken.
Diese Abweichung ist ungeheuer mutig, es ist der Mut eines Angestellten, der es eines Tages wagt, seinen Krawattenknoten zu lockern, bevor er ins Büro seines Chefs geht, um sich seinen Tagesbefehl abzuholen. Zaillian ist einer der renommiertesten und besten Drehbuchautoren Hollywoods, er hat für "Schindlers Liste" einen Oscar bekommen, hat großartige, auf Bestsellern basierende Filme wie "Das Kartell" geschrieben (nach einem Roman von Tom Clancy). Wenn einer selbstbewusst sein kann, dann er.
In den Händen der Fundamentalisten
Das Problem ist nur: Zaillian hat nicht bloß einen Chef, sondern 65 Millionen Chefs, die Käufer des Romans, und sehr viele von ihnen sehen in ihm vor allem ein ausführendes Organ ihres Willens und einen treuen Diener der Vorlage. Manche von ihnen sind Fundamentalisten, für die Stieg Larssons Bücher heilige Schriften sind, die keinerlei Interpretation bedürfen, sondern denen vielmehr im Wortlaut zu folgen ist. Ein Film darf da lediglich die Seiten bebildern.
Das alles müsste nicht mal ein Problem sein, wären Larssons Bücher perfekte Vorlagen für Filme. Es gibt solche Fälle in der Kinogeschichte. Einige Novellen von Stefan Zweig etwa wirken schon beim Lesen wie Drehbücher, vor allem in der Struktur, sie drängen sich zur Verfilmung fast auf. So konnten aus großartigen literarischen Werken wie "Briefe einer Unbekannten" ebenso großartige Filme werden. Doch der Erzählfluss bei Larsson ist träge, er mäandert, das Buch war ursprünglich für die Lektüre an langen schwedischen Winterabenden gedacht.

"Verblendung": Schweden in Schwarzweiß
Beim langsamen Lesen entfaltet die ausführlichst rekapitulierte Familiengeschichte der Vangers vielleicht ihren Reiz, im Film wird sie in Dialogen aufgearbeitet, die nie in Schwung kommen können unter der Last, ein ungeheures Informationsvolumen transportieren zu müssen. Vielleicht will man es dann doch nicht so genau wissen, dafür aber einen flotteren Film? So hat man das Gefühl, dass David Finchers nach Zaillians Skript gedrehter Film erst nach der Hälfte richtig anfängt, zumal Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist erst nach fast 80 Minuten aufeinander treffen. In den guten alten Zeiten des B-Movies war ein Film nach 80 Minuten oft schon vorbei.
Wäre der Roman "Verblendung" das unbekannte Werk irgendeines Nachwuchsautors, würde jeder Drehbuchautor diese Begegnung nach vorn verlagern, womöglich ans Ende des ersten Aktes. Doch es passiert nicht, und zwar deshalb, weil es so nicht geschrieben steht. Denn das, was geschrieben steht, ist für viele Fans offenbar eine Parallelwelt, in der für sie die Dinge genauso schicksalhaft passieren wie in der wirklichen Welt und deshalb nicht hinterfragbar sind. Wer den "Herr der Ringe"-Fans etwa vorhält, im zweiten Teil der Verfilmung verschwinde der Zauberer Gandalf für anderthalb Stunden und tauche erst am Ende wie Kai aus der Kiste wieder auf, bekommt zu hören, das sei ja schon im Roman so. Aber vielleicht war es dann ja schon im Roman nicht gut?
Das ist natürlich ein fürwahr gotteslästerlicher Gedanke, ein Sakrileg vor dem Herrn der Ringe, der im Grunde auch der Herr der Dinge ist. Nicht umsonst hat Peter Jackson für seine "Hobbit"-Adaption im Internet jahrelang mit den Fans diskutiert, wie sie sich den Film vorstellen. Demokratie ist etwas Feines, natürlich, aber glauben wir wirklich, dass nach Volksabstimmungen gute Filme entstehen? Aber vielleicht sind ja Bestseller-Verfilmungen gar keine Filme mehr.
Film on demand
Denn das durch und durch konservative Bestreben, die Vorlage zu bewahren, setzt die ästhetischen Kriterien außer Kraft, an denen Filme für gewöhnlich gemessen werden, auch von ganz normalen Zuschauern: Ob ein Film originell ist oder nicht, in sich schlüssig ist oder nicht, ob die Erzähldichte hoch ist oder nicht, all das spielt bei Bestseller-Verfilmungen keine Rolle mehr. Es wird erwartet, dass die Filmemacher den Autoren der Vorlage selbst auf ihren Irrwegen folgen.
War das früher anders? Besser? Schon in den dreißiger Jahren, bei der Adaption von "Vom Winde verweht", der Mutter aller Bestseller-Verfilmungen, nahm die Öffentlichkeit großen Einfluss, die Besetzung der Hauptrollen war ein Titelseiten-Thema. Nur können sich die Fans heute über das Internet zusammenschließen, sie sind deshalb mächtiger und sich ihrer Macht auch noch bewusst. Es scheint so, als könnten sie erzwingen, genau das zu bekommen, was sie sehen wollen, eine ganz eigene Form von "film on demand".
Doch große Filme entstehen meist dann, wenn ein Filmemacher eine Vorlage nimmt, sei es eine Zeitungsnotiz oder einen 600-Seiten-Wälzer, den - wie Bertolt Brecht es nennen würde - "Materialwert" abschätzt und daraus etwas völlig Neues formt. David Fincher, Regisseur von "Verblendung", hat das selbst so gemacht, als er vor rund vier Jahren F. Scott Fitzgeralds Kurzgeschichte "Der seltsame Fall des Benjamin Button" verfilmte; Alfred Hitchcock hat auf diese Weise viele Meisterwerke gedreht.
Selbst ein Drehbuch wird in dem Moment, wenn ein Film aus ihm wird, gleichzeitig verwirklicht und vernichtet, denn es ist nur Mittel zum Zweck. Man muss vielleicht lernen, mit dem Gedanken leben, dass Bücher immer wieder mit guten Gründen bei der Adaption verheizt werden, sie sind eben ein hervorragender Rohstoff. Die Verfilmung ist vermutlich die einzige Art von Bücherverbrennung, die zu etwas gut ist.