
Cannes-Film "Le Passé": Ankunft im Ungewissen
Cannes-Hit "Le Passé" Heimatlos in Paris
Das Festival von Cannes verhält sich zur Berlinale wie der FC Bayern zu Borussia Dortmund. Es schnappt dem Konkurrenten gern die besten Leute weg. Der iranische Regisseur Asghar Farhadi wurde in Berlin zu einem Regisseur von Weltgeltung, seine Filme "Alles über Elly" (2009) und "Nader und Simin" (2011) gewannen Silberne und Goldene Bären. Ein halbes Jahr verbrachte Farhadi sogar auf Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in der deutschen Hauptstadt. Doch alle Versuche, ihn in Berlin zu halten, waren vergebens: Farhadi wechselte zum 1. FC Cannes, dem Vorzeigeclub des Kinos.
Sein neuer Film "Le Passé" (Die Vergangenheit) feiert am Freitag an der Croisette Premiere. Es ist ein Triumph. Farhadi, der für "Nader und Simin" einen Oscar gewann, erzählt die Geschichte des Iraners Ahmad (Ali Mosaffa), der aus Teheran nach Paris zurückkehrt, um sich von seiner französischen Frau Marie (Bérénice Bejo) scheiden zu lassen. "Mach einen klaren Schnitt", rät ihm ein Freund. Doch Farhadi zeigt in "Le Passé", wie schwer es ist, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Denn in der Erzählung des Lebens folgen die Kapitel nicht nacheinander; sie überlagern sich ständig.
Farhadi beginnt seinen Film mit einer Szene am Flughafen. Während Marie Ahmad sofort im Ankunftsbereich erblickt, braucht er lange, bis er sie sieht. Kurz danach stehen sie sich gegenüber, reden durch eine Trennscheibe wieder die ersten Worte miteinander. Sie können nicht hören, was der andere sagt, aber sie verstehen sich dennoch. In diesen beiden Momenten steckt schon die gesamte Beziehung: Wenn es zwischen Marie und Ahmad je blindes Einverständnis gab, ist es schon lange verlorengegangen. Und doch besteht eine Vertrautheit zwischen ihnen, die sie für immer verbinden wird.
Die Zweifel der Erwachsenen, die Ängste der Kinder
Bei dem Versuch, die Dinge zu ordnen, geraten Marie und Ahmad in ein Durcheinander der Gefühle, das sich zunehmend schwerer beherrschen lässt. Marie lebt mit zwei Töchtern aus einer früheren Ehe vor den Toren von Paris. Bei ihnen wohnt auch noch ein kleiner Junge. Es ist der Sohn von Samir (Tahar Rahim), Maries neuem Lebensgefährten, von dem Ahmad bislang nichts wusste. Samirs Frau liegt seit einem Suizidversuch im Koma.
Farhadi betrachtet dieses Patchwork als organisches Ganzes, dem er bis in die feinste Kapillare nachspüren will. Er will wissen, wie es im Innersten zusammenhängt, unser menschliches Zusammenleben, in all seiner scheinbar undurchdringlichen Kompliziertheit. Er lässt den Zuschauer die Zweifel der Erwachsenen und die Ängste der Kinder teilen. Es gelingt ihm im Laufe des Films, uns durch die Augen jeder einzelnen seiner Figuren auf dieses sonderbare Beziehungsgefüge blicken zu lassen.

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So gerät Ahmad, der nur gekommen war, sein eigenes Leben neu zu sortieren, plötzlich in ein ganz anderes Leben hinein, in das Drama des Mannes, an den er seine Frau verloren hat. Und Samirs Sohn weiß auf einmal gar nicht mehr, wo er hingehört, in welchem Bett er schlafen soll, in welcher Wohnung er sich zu Hause fühlen soll, in der seines Vaters oder in der jener Frau, die ihm womöglich die Mutter genommen hat. "Le Passé" ist ein großartiger Film über das Gefühl der Entwurzelung und Heimatlosigkeit, das sich im Zuge eines Trennungsprozesses bei allen Beteiligten einstellt.
Farhadi, der in Iran relativ unbehelligt von der Zensur arbeiten konnte, hat nun seinen ersten Film in Frankreich gedreht. Doch spielt "Le Passé" wirklich dort? Maries Haus, in dem ein Großteil der Handlung stattfindet, liegt in einer anonymen Vorstadtsiedlung am Ende einer Straße. Direkt an das Grundstück grenzt eine Eisenbahntrasse, nicht weit entfernt verläuft eine Schnellstraße. Farhadi erzählt von Menschen, die sich an einem Ort der Durchreise zusammenraufen.