Russischer Film "Leviathan" Verkommene Menschen in einem verkommenen Land

Russischer Film "Leviathan": Verkommene Menschen in einem verkommenen Land
Foto: DPA/ Wild BunchViel war über die angebliche politische Sprengkraft dieses russischen Films zu hören, der den Golden Globe gewonnen hat, für einen Oscar als Bester ausländischer Film nominiert war und in Russland heftig angefeindet wird - und doch hat die schrecklichste und traurigste Szene von "Leviathan" nichts mit Politik zu tun, sondern mit einem Liebesverrat.
Da sieht man die herbe, schöne Lilja (Elena Ljadowa) gefühlte fünf Minuten lang schluchzend vor einem Badezimmerspiegel stehen. Sie hat hinter dem Rücken ihres Ehemanns Kolja (Alexej Serebriakow) mit dessen aus Moskau angereistem Freund Dmitri (Wladimir Wdowitschenko) in einem Hotelzimmerbett gevögelt und sich wenig später beim Knutschen mit dem Fremden erwischen lassen.
Natürlich weint Lilja über das Missgeschick, das auch ein bisschen komisch ist. Natürlich greint sie auch deshalb, weil sie sich zu beiden Männern hingezogen fühlt. Am allermeisten aber heult sie über ihre eigene Gemeinheit; darüber, dass der Philosoph Thomas Hobbes, Autor des berühmten Buchs vom "Leviathan", so offensichtlich Recht hatte, als er vor mehr als 350 Jahren behauptete, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei.

Filmdrama "Leviathan": Ein sehr schöner, sehr böser Albtraum
Zwei Stunden und zwanzig Minuten lang lässt einen der Film "Leviathan" des russischen Regisseurs Andrej Swjaginzew in den Abgrund einer gründlich bösen Welt gucken. In einer kalten, verwahrlosten Stadt an der Barentsee hoch droben im Norden Russlands steht über einer wild zerklüfteten Küste das Haus des Automechanikers Kolja. Der Bürgermeister des Ortes, ein feister Funktionär namens Wadim (Roman Madjanow), will ihn aus seinem Heim vertreiben.
Wadim beansprucht Koljas Haus mit dessen schöner Glasfront und auch Koljas Autowerkstatt, bietet ihm eine lächerliche Entschädigung und setzt vor Gericht gegen Koljas Anwaltsfreund Dimitri die Enteignung des Mechanikers durch. Anschließend beschimpft er die Unterlegenen: "Ihr seid nur Ungeziefer für mich".
Stadien der menschlichen Verkommenheit
Der Film "Leviathan" lässt nicht nur die Geschichte vom Meeresungeheuer Leviathan aufleben, das in der Bibel als Gleichnis für das Böse schlechthin und bei Thomas Hobbes für den Staat steht, er hat selbst stark lehrstückhaften Charakter. Swjaginzew, der 2003 mit seinem Erstlingsfilm, dem auch schon ziemlich düsteren Vater-Sohn-Drama "Die Rückkehr", in Venedig die Goldene Palme gewann, schildert hier verschiedene Stadien der menschlichen Verkommenheit in einem verkommenen Land.
In einer wunderschön fotografierten Landschaft sieht man Menschen beim Wodkasaufen, Brüllen und Lallen zu. Man begegnet einem schleimigen Popen, weiblichen Justiz-Apparatschiks, die ihre Verfügungen robotergleich herunterleiern, und brutalen Schlägertypen, die für Geld jederzeit mordbereit sind. Der ekelhafteste Mordbube von allen aber ist der fette, leutselige Bürgermeister Wadim, der sich in einer Limousine herumkutschieren lässt und unter einem Bild Wladimir Putins in seiner Amstube verkündet: "Die Jugend von heute lebt gefährlich." Über Typen wie ihn heißt es einmal: "Sie wissen genau, dass sie jeden kaufen können. So regiert es sich leichter."
Der Regisseur Swjaginzew hat behauptet, sein Film schere sich gar nicht so sehr um die konkreten Zustände im heutigen Russland, sondern um "kleine Menschen, die in einem System ins Stolpern geraten"; zuvor hatte man ihn als Vaterlandsbeschmutzer attackiert. Die Geschichte, die er erzähle, sagt Swjaginzew, sei "absolut universell" in einer Welt, "in der sich alle Menschen sehr ähnlich sind."
Stets die schlimmstmögliche Wendung
Tatsächlich betreibt "Leviathan" Schwarz-Weiß-Malerei mit archaischer Gewalt. Halbwegs unverdorben, wenngleich ohne jede Hoffnung, sind hier allenfalls die Jugendlichen, mit denen Koljas Sohn Roman aus einer früheren Ehe abends in einer Felshöhle ums Feuer sitzt; ansonsten gehen alle Bewohner der nordrussischen Einöde mit stumpfer Gleichgültigkeit ihren Geschäften nach. Das minimalistische Pathos der Musik von Philip Glass, die hier ein paar Mal aufgedreht wird, gibt dem Betrachter dieses grandiosen Elendspanoramas immer wieder den Rest: Selten gab einem ein Kinofilm Anlass zum Heulen mit derart verzweiflungsphilosophisch fundierter Wucht.
Natürlich kann man sich über die Konsequenz, mit der Kolja, dem Helden dieser Hiobsgeschichte, stets die schlimmstmögliche Wendung zugemutet wird, manchmal entrüsten oder sogar amüsieren. Natürlich kann man den Eifer, mit dem hier das Unheilsprophetenkino des toten russischen Meisterregisseurs Andrej Tarkowski fortgesponnen wird, mitunter ein bisschen aufdringlich finden. Doch gerade die Unerbittlichkeit, mit der Andrej Swjaginzew elegische Naturbeschwörung und ein katastrophisches Menschenbild zusammenzwingt, macht diesen stockfinsteren Film, der oft wie ein Schattenspiel anzusehen ist, zu einem Kinoereignis, das sich im Zuschauerhirn festbrennt wie ein sehr böser, sehr schöner Albtraum.
Russland 2014
Regie: Andrei Swjaginzew
Buch: Andrei Swjaginzew, Oleg Negin
Darsteller: Alexey Serebryakov, Roman Madyanov, Elena Lyadova, Vladimir Vdovitchenkov, Anne Oukolova, Aleksey Rozine, Sergey Pokhodaev
Produktion: Alexander Rodnyansky, Sergei Melkumow
Verleih: Wild Bunch
Länge: 142 Minuten
FSK: 12 Jahre
Start: 12. März 2015