Lust auf Lust Macht uns an!

Wann ist die Filmwelt eigentlich so spießig geworden? Das Kino braucht dringend wieder mehr Sex.

Sie ist das Flittchen, die Schlampe, das Luder, das es mit jedem treibt. Sie ist blond und billig und zu stark geschminkt. Sie säuft und nimmt Drogen, bis sie sich übergeben muss, und danach steigt sie noch mit dem widerlichen fetten Arbeitskollegen ins Bett. Diese Frau kennt keine Grenzen. Doch, eine: Beim Sex behält sie den BH an.


Es gibt nur zwei Sexszenen in Jody Hills neuem Film "Shopping-Center King" - das ist für heutige Hollywood-Verhältnisse schon viel -, doch die sind so unsexy, dass man sie auch hätte weglassen können. Anna Faris legt den ganzen Film lang einen wunderbar überzogenen Auftritt als verlottertes Mädchen hin, doch der BH macht alles wieder zunichte. Wer soll ihr das glauben?

Das Problem ist, dass der Zuschauer es gar nicht mehr anders gewöhnt ist. In jedem Freibad sieht man heute mehr nackte Oberkörper als auf der Leinwand, man hat es irgendwann so hingenommen. Jede menschliche Aktivität versucht Hollywood möglichst realistisch darzustellen: In den Filmen wird geredet, gekämpft, gegessen, geschlafen und gestorben. Doch Sex? Sex hat schon lange niemand mehr. Eine Flutkatastrophe, die binnen Minuten Millionen Menschen auslöscht wie in "The Day after Tomorrow"? Kein Problem - Altersfreigabe ab 12. Ein Penis? Wenigstens eine nackte Brust? Niemals!

Sexualität wird ausgeblendet, es wird im Film nicht einmal mehr darüber geredet. Das Thema ist den Regisseuren und Produzenten zu gefährlich geworden. Wer viel zeigt, dem droht eine Altersfreigabe ab 18 und damit ein zu kleines Zielpublikum. Vor allem in den USA haben Sittenwächter ein Auge darauf, ob es im Kino auch familiengerecht zugeht - sonst wird zum Boykott aufgerufen. Und das bei stets strenger werdenden Maßstäben: Über eine nackte Brust hätte sich vor 20 Jahren kaum jemand aufgeregt, heute reden dann viele gleich von Pornografie. Eine Stimmung aus Prüderie, Angst und Übervorsicht hat dem Kino die Lust geraubt.

Das muss sich dringend wieder ändern.

Wer im Juni so etwas wie Leidenschaft auf der Leinwand erleben will, dem bleibt nur Bernardo Bertoluccis 37 Jahre alter Klassiker "Der letzte Tango in Paris", der Ende des Monats in ein paar deutschen Kinos wiederaufgeführt wird. Der Film mit Marlon Brando und Maria Schneider war 1972 ein Skandal, wie ihn das Kino seitdem kaum mehr gesehen hat. Ein zufälliges, anonymes Pärchen, das bei jeder Gelegenheit übereinander herfällt, in brutaler und nihilistischer Leidenschaft, und der Zuschauer ist immer hautnah dabei. Der "Stern" entdeckte "aggressive, animalische Sex-Szenen von einer bisher nicht gekannten Unmittelbarkeit und Hemmungslosigkeit". Der Satz "Los, hol die Butter" vor der Analverkehr-Szene wurde zu einem der berühmtesten Filmzitate aller Zeiten. Die damals noch aktiven Zensurbehörden liefen Sturm, die italienische Polizei beschlagnahmte landesweit alle Filmkopien, Bertolucci wurden in Italien die Bürgerrechte aberkannt, fünf Jahre lang durfte er nicht einmal wählen.

Das war es wert, denn trotzdem wurde "Der letzte Tango in Paris" ein unglaublicher Erfolg, der für endlose Schlangen vor den Kinos sorgte und weltweit knapp 100 Millionen Dollar einspielte. Rechnet man die Inflation mit, wären das heute über 250 Millionen, so viel wie ein moderner Blockbuster.

Der Film bewies, dass Kino explizite Sexualität zeigen kann, ohne damit in der Porno-Ecke zu landen. Die legendäre amerikanische Kritikerin Pauline Kael befand, Bertolucci und Brando hätten "das Gesicht einer ganzen Kunstform geändert", und feierte den Film als langersehnten Durchbruch für das Kino an sich.

Und was ist aus der Revolution geworden? Sex mit BH.

So prüde und übervorsichtig wie heute ging es auf der Leinwand zuletzt wohl nur in den fünfziger und frühen sechziger Jahren zu, als Doris Day und Rock Hudson mit Komödien wie "Bettgeflüster" oder "Ein Pyjama für zwei" Maßstäbe der Spießigkeit setzten.

Dabei herrschte am Anfang der Filmgeschichte, von der Stummfilmzeit bis zu den Tonfilmen Mitte der dreißiger Jahre, noch ungezwungene Freizügigkeit auf der Leinwand. 1915 geisterte in der Paramount-Produktion "Hypocrites" der Regisseurin Lois Weber über weite Strecken Margaret Edwards als ganz und gar nackte Wahrheit durch den Film. Regie-Ikone Cecil B. DeMille machte sich einen Spaß daraus, in seinen spektakulären Reißern so viel Sex wie möglich unterzubringen - sei es mit Gloria Swanson als Sklavin im Leopardenfell-Leibchen in einer Traumsequenz in "Male and Female" (1919) oder mit einer wüsten Orgienszene wie in "Die zehn Gebote" (1923). Jean Harlow ("Vor Blondinen wird gewarnt", 1931) oder Mae West ("Ich bin kein Engel", 1933) haben ihre ganzen Karrieren auf dem Image der verruchten Sexbomben aufgebaut, deren durchsichtige Kleidchen und anzügliche Sprüche ("Ist das eine Pistole in Ihrer Tasche, oder...?") bei den Produzenten von heute für Schreckstarre sorgen würden.

Die erotische Durststrecke begann 1934 mit der offiziellen Inkraftsetzung des "Production Code" - eines umfassenden Katalogs strenger moralischer Richtlinien, mit dem sich der Dachverband der amerikanischen Filmproduktionsfirmen vor Boykottaufrufen konservativer Gruppen schützen wollte und zugleich in eine Ära rigider Selbstzensur stürzte. Wer gegen den Code verstieß, wurde vom Verband zu einer empfindlichen Geldstrafe verpflichtet, sein Film durfte in vielen Kinos gar nicht erst anlaufen.

Wenn schon nackt, dann nur als Nazi.


Erst 1967 diktierte der liberale Zeitgeist das Ende des Codes. Die Welt war im Umbruch, der Ruf nach Gleichberechtigung und freier Liebe wurde laut. Hollywood konnte sich nicht mehr verschließen. Der Filmverband beschloss ein freiwilliges Bewertungssystem, das noch heute gilt und sich auch in Deutschland (FSK ab 6, ab 12, ab 16 et cetera) durchgesetzt hat.


Sexualität war im Mainstream-Kino damit wieder möglich, was die zeitgenössischen Regisseure wie Bertolucci gern ausgenutzt haben. Ob mit künstlerischem Ansatz wie Peter Bogdanovich im Jugend-ohne-Hoffnung-Drama "Die letzte Vorstellung" (1971) mit einer nackten Cybill Shepherd - oder mit etwas tiefer angesiedelten Motiven wie Jonathan Demme mit seinem Erstling "Das Zuchthaus der verlorenen Mädchen" von 1974. In Deutschland trat unterdessen "Der Schulmädchenreport" seinen unseligen Siegeszug an, die weichgezeichnete "Emmanuelle"-Reihe wurde auf der ganzen Welt zu einer der erfolgreichsten Filmserien überhaupt. 1979 schockierte der italienische Regisseur Tinto Brass den Planeten mit seinem starbesetzen Schmuddelepos "Caligula", das es an Kontroversen fast mit Bertoluccis "Tango" aufnehmen konnte, wenn auch nicht an Qualität.

Seit den achtziger Jahren geht es nun wieder bergab mit der Erotik auf der Leinwand. Die Produzenten glaubten erkannt zu haben, dass sich das schnelle Geld am besten mit großen Event-Filmen verdienen ließe, die konsequent auf Jugendliche ausgerichtet sind. Denen darf man aber keine nackten Tatsachen zumuten. Würdige Skandalfilme mit Anspruch, wie Philip Kaufmans "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" (1988) - bis heute einer der sexuell offensivsten amerikanischen Filme -, wurden selten. Immerhin: Bis in die neunziger Jahre hinein gehörten Sexszenen in den verbliebenen Nicht-Kinderfilmen einfach dazu, und auch für viele der Filmstars war es kein Problem, sich vor der Kamera auszuziehen - ob Kim Basinger ("9 1/2 Wochen", 1986), Glenn Close ("Eine verhängnisvolle Affäre", 1987), Laura Dern ("Wild at Heart", 1990), oder Sharon Stone in "Basic Instinct" (1992).

Auch die Männer waren damals nicht so scheu: Mel Gibson präsentierte in der Action-Komödie "Lethal Weapon" (1987) der Welt so selbstverständlich seinen Hintern wie Arnold Schwarzenegger in den ersten beiden "Terminator"-Teilen; Richard Geres Hinterteil ist mit "Ein Mann für gewisse Stunden" (1980) zum Teil der Popkultur geworden. Wer bei der DVD von "Atemlos" (1983), einem verunglückten Remake von Godards "Außer Atem", an der richtigen Stelle auf Pause drückt, kann sich auch heute noch über den Anblick von Geres Penis freuen.

Heute dagegen hält jeder Künstleragent seine Schützlinge von Nacktszenen ab, aus Furcht, dass sie danach nicht mehr als familientauglich gelten. Sarah Jessica Parker zum Beispiel spielt in "Sex and the City" zwar eine Sex-Kolumnistin mit abwechslungsreichem Liebesleben, zeigte sich aber weder in der TV-Serie noch im Film von 2008 jemals von vorn ohne Oberteil. Sogar Richard Gere ist mittlerweile zum filmischen Zölibat verdammt. Gab es in "Pretty Woman" 1990 noch eine schüchterne Liebesszene und angedeuteten Oralverkehr, zeigt Gere nun selbst in einer erklärten Romanze wie der Nicholas-Sparks-Verfilmung "Das Lächeln der Sterne" keine Haut mehr. Er darf seiner Filmpartnerin Diane Lane höchstens mal lange in die Augen schauen, wenn die Leidenschaft gipfeln soll. Es ist ein Trauerspiel.

Stars ziehen sich heute allenfalls zur Erhöhung der Oscar-Chancen aus. Am besten, wenn man neben den Sexszenen noch eine Geschichte über den Holocaust zu bieten hat, wie bei Kate Winslet in "Der Vorleser" in diesem Jahr. Wenn schon nackt, dann nur als Nazi.

Auch bei Horrorfilmen ist viel erlaubt, die sind eh erst frei ab 18. Bei allen anderen Filmen tun die Produzenten alles für eine PG13-Altersfreigabe - vergleichbar mit FSK 12 in Deutschland -, in der Hoffnung, so ein breiteres Publikum zu erreichen. Je harmloser, desto besser. Man müsse die Teenager ansprechen, heißt es immer, die Erwachsenen gingen doch eh nicht mehr ins Kino. Na, warum wohl?

Dass es jüngst in ein paar raueren amerikanischen Komödien aus dem Umfeld des Regisseurs Judd Apatow Mode geworden ist, männliche Genitalien zu zeigen, bietet auch keinen Anlass zur Hoffnung. Ein Penis wird nur gezeigt, wenn darüber gelacht werden soll, niemals in einem sexuellen Kontext. In "Nie wieder Sex mit der Ex" muss sich Jason Segel splitternackt anhören, wie seine Freundin mit ihm Schluss macht. In "Shopping-Center King" gibt es Beischlaf zwar nur mit BH, dafür aber einen übergewichtigen Exhibitionisten, der sich am Ende der Kamera in totaler Blöße präsentieren darf, nur um eine spaßige Verfolgungsjagd einzuleiten. Eine echte, erotisch aufgeladene männliche Frontal-Nacktszene, wie sie Kevin Bacon 1998 noch in "Wild Things" riskiert hat? Heute undenkbar.

Zurzeit wagen nur ein paar Kunstfilmer wie John Cameron Mitchell ("Shortbus", 2006) oder gerade wieder Lars von Trier mit "Antichrist" noch einen ähnlich expliziten Umgang mit Sexualität wie Bertolucci im "Letzten Tango", sonst ist da kaum jemand.

Dabei herrscht doch gerade wieder ein Klima des Aufbruchs und des Freigeistes, wie es schon Ende der sechziger Jahre das Kino offener gemacht hat. Komplizierteren Themen wie Religion und Politik nähern sich die Regisseure wieder an, seit der Einfluss der konservativen Wachsamkeitstruppen gesunken ist - warum widmen sie sich nicht auch wieder der Sexualität?

Man kann ja ganz vorsichtig wieder anfangen, die Sinnlichkeit ins Kino zurückzubringen. Vielleicht mal eine Liebesszene ohne BH, vielleicht mal wieder ein nackter Männerhintern. Kleine Schritte in Richtung Höhepunkt. Schließlich fehlte schon in "Der letzte Tango in Paris" bei aller Verrufenheit ein wichtiges erotisches Detail: Marlon Brandos Penis ist kein einziges Mal zu sehen.

Er hätte ja eigentlich kein Problem damit gehabt, gab Brando später zu Protokoll.

Leider sei ihm sein bestes Stück am Set aber auf die Größe einer Erdnuss zusammengeschrumpft.


Film: Der letzte Tango in Paris. Start: 25.6.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten