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Intimer Dokumentarfilm "Madame" Die Geschichte zweier Befreiungen

In "Madame" erzählt Stéphane Riethauser, wie er sich vom konservativen Jurastudenten zum schwulen Filmaktivisten wandeln konnte - und was das mit seiner Oma, einer reichen Schweizer Unternehmerin, zu tun hat.
Von Sven von Reden

"Pédé" tönt es gleich in den ersten Sekunden von der noch schwarzen Leinwand herab - die französische Kurzformel für "Päderast", die abwertend für Schwule benutzt wird. Die "Schwuchtel" ist der Filmemacher selbst, der 1972 geborene Schweizer Stéphane Riethauser.

In der ersten Einstellung sieht man ihn als Jugendlichen scherzhaft verkleidet als Fernsehansagerin im lila Leopardenoutfit - Jahre bevor er sich selber seine sexuelle Orientierung eingestanden hatte.

Die nächste Einstellung geht noch weiter zurück: Mit Teleobjektiv fängt ihn da sein Vater im Urlaub ein. Wie ein sarkastischer Kommentar auf das eben Gehörte prangt auf dem Hinterteil der grünen Frottee-Badehose des Kleinen ein Aufnäher in Form einer großen orangenen Erwachsenenhand. Das ist ein Grundprinzip von Riethausers Debütfilm: Private Aufnahmen bekommen retrospektiv eine zweite Bedeutungsebene, sei sie komisch, tragisch oder einfach nur enthüllend.

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"Madame": Lernen von der Alten

Foto: Edition Salzgeber

Riethausers privilegiertem Aufwachsen ist es zu verdanken, dass ihm überhaupt so viel Bildmaterial aus dem eigenen Leben zur Verfügung stand - denn "Madame" spielt zu großen Teilen zu Zeiten, in denen noch keine Mobiltelefone kinotaugliche Bilder aufnahmen. Als Sohn eines Genfer Unternehmers mit eigenen filmischen Ambitionen wurde sein Leben von frühester Kindheit schon ausgiebig auf Super-8 gebannt. Als Jugendlicher schenkte ihm seine Großmutter eine erste eigene Videokamera.

Jene Großmutter begründete den Wohlstand der Familie und ist die zweite Hauptfigur von "Madame". Durch ihre Geschichte wird Riethausers Film herausgehoben aus dem Rahmen der bisweilen ermüdenden Selbstfindungserzählungen, die auch im Genre des Dokumentarfilms zunehmend beliebt sind. Als erzählerischen Kniff hat er seinen Film als einen postumen audiovisuellen Brief an die vor 15 Jahren verstorbene Familienpatriarchin angelegt. "Sei dir bewusst, dass das, was ich sagen werde, von dem verfälscht wird, was ich nicht sagen werde, was ich nicht gefilmt habe, vergaß, falsch darstelle oder absichtlich auslasse", schreibt er seiner geliebten Oma - aber natürlich meint er seine Zuschauer.

Eingeführt wird Caroline als konservative alte Dame, die ihren Enkel - wenn auch schelmisch - wegen seiner wilden Frisur mit dem Glöckner von Notre Dame vergleicht. Doch Riethauser korrigiert dieses Anfangsbild im Verlauf seines Films immer weiter: Caroline, so stellt sich heraus, hat sich schon früh in ihrem Leben gegen Erwartungen, was für eine Frau angemessen und schicklich sei, gestellt.


"Madame"
Schweiz 2019

Drehbuch und Regie: Stephane Riethauser
Verleih: Salzgeber & Company Medien
Länge: 94 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Start: 12. Dezember 2019


Ihrer Verheiratung in sehr jungen Jahren, einer Ehe ohne Liebe entzog sie sich früh durch Scheidung. Alleinerziehend und ohne Alimente schlug sie sich zunächst als Friseurin durch, bis sie unter anderem mit dem Vertrieb von Korsagen für eine betuchte Klientel wohlhabend wurde. Als eine der ersten Frauen in Genf besaß und fuhr sie ein Auto. Im späteren Leben entdeckte sie dann die Künste für sich - und mit 83 beginnt sie zu malen.

Stéphanes Emanzipationsgeschichte war dagegen eine, die weniger gegen die Gesellschaft erkämpft werden musste als gegen die eigenen internalisierten heteronormativen Geschlechternormen. Bis in seine Studentenzeit hinein weigerte sich Riethauser, die eigene Homosexualität wirklich zu akzeptieren. Noch als Präsident der lokalen Vereinigung der Jurastudenten setzt er sich für verschiedene konservative bis rechte Anliegen ein. Es ist bisweilen geradezu schmerzhaft anzusehen und zu hören, wie er etwa als Jugendlicher die eigenen Ängste vor mangelnder Männlichkeit mit der Herabwürdigung von Frauen kompensierte.

Das erklärt vielleicht auch, warum Riethauser in seinem Film bisweilen das Sendungsbewusstsein eines Bekehrten an den Tag legt. Er lässt es sich nicht nehmen, die Kamera gleich zu Beginn über sorgsam drapierte Gendertheorie-Reader und Bücher von Simone de Beauvoir und Arthur Dreyfus streifen zu lassen. In seinem Off-Kommentar zeigt er sich als deren gelehriger Schüler.

Im Video: Der Trailer zu "Madame"

Edition Salzgeber

Umso schöner ist es, dass er die letzten Minuten seiner Großmutter überlässt und dabei weitgehend auf das Voice-over verzichtet. In der letzten Einstellung fährt die alte Dame mit ihrem E-Rolli ("Mein Rolls") flott durch eine Genfer Gasse und grüßt Passanten mit einer knappen Handbewegung wie eine Königin.

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