»Minari« von Lee Isaac Chung Die sanfte Kinorevolution

Wie es ist, in den USA anzukommen: In der Oscar-Überraschung »Minari« erzählt Lee Isaac Chung aus der Innenperspektive einer koreanischen Familie – und schlägt damit neue Wurzeln für Hollywood.
Von links: Steven Yeun, Alan Kim, Youn Yuh-jung, Han Ye-ri und Noel Cho in »Minari«

Von links: Steven Yeun, Alan Kim, Youn Yuh-jung, Han Ye-ri und Noel Cho in »Minari«

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»Warum ist dein Gesicht so platt?« Auf die Frage, die ihm ein gleichaltriger weißer Junge beim Essen nach dem Gottesdienst stellt, hat der achtjährige David Yi (Alan Kim) spontan keine Antwort. Er versteht noch nicht, dass sie eigentlich darauf abzielt, warum David asiatisch und nicht europäisch aussieht. Aber der andere Junge versteht auch noch nicht, dass er sich gerade selbst zum Maßstab für normales Aussehen genommen hat. Vereint im diffusen Unverständnis ihrer Situation können beide gut ohne eine Antwort leben und machen sich wieder über ihr Essen her.

Nur bei der Zuschauerin setzt sanfte Beklemmung ein. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass David wegen seiner koreanischstämmigen Eltern so eine Frage gestellt bekommen wird. Aber es wird wahrscheinlich das letzte Mal sein, dass er sie so unbekümmert hinnimmt.

Unschwer ist in David das Alter Ego von Autor und Regisseur Lee Isaac Chung, Jahrgang 1978, zu erkennen, der in »Minari – Wo wir Wurzeln schlagen« vom Neuanfang seiner Familie im ländlichen Arkansas Mitte der Achtzigerjahre erzählt. Bei den diesjährigen Oscars war das Drama die große Überraschung: sechs Nominierungen, darunter für den besten Film und für die beste Regie, und eine Auszeichnung für Youn Yuh-jung als beste Nebendarstellerin in ihrer Rolle als Davids Großmutter.

»Unser eigenes Ding«

Überraschend war dieser Erfolg nicht nur, weil sich die stille Kraft des Films über ein Jahr nach seiner Premiere auf dem Sundance-Festival 2020 bis zu den Oscars 2021 gehalten hatte. Sondern weil »Minari« größtenteils auf Koreanisch gedreht ist. Bei den Golden Globes wurde der Film deshalb in die Kategorie »Bester fremdsprachiger Film« sortiert, stach dort den späteren Auslandsoscar-Gewinner »Der Rausch« aus und löste so eine Debatte darüber aus, was heute genau ein amerikanischer Film ist und was nicht.

»Es wäre toll, wenn wir beim Entwickeln von Filmen Sprache gar nicht in Betracht ziehen«, sagt Chung beim Interview via Zoom. »Wir als Gruppe müssen uns an Filme, die in verschiedenen Sprachen sind, gewöhnen und das Englische nicht automatisch mit Qualität und Zugänglichkeit verbinden.« Chungs Hauptdarsteller Steven Yeun, der Davids Vater spielt und als erster Asian American für den Hauptdarsteller-Oscar nominiert war, hat den Wandel für sich bereits programmatisch auf den Punkt gebracht: »Wir machen jetzt unser eigenes Ding.«

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»Minari: Wo wir Wurzeln schlagen"

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Wie das aussehen könnte, zeigt »Minari«, Chungs vierter Spielfilm, äußerst überzeugend. Er erzählt die Erlebnisse der Familie Yi komplett aus der Innenperspektive. Nicht welchen Platz die USA dieser Familie bieten, sondern welchen Platz die Yis in diesem Land einnehmen wollen, beschäftigt ihn. »Wir wollten einen Schritt weitergehen, als uns über unser Asiatisch-amerikanisch-Sein zu verständigen«, so Chung. »Wir wollten zu grundlegenderen Dingen vorstoßen: Wie schafft man sich eine neue Identität? Was heißt es genau, nach Glück zu streben?«

Die Yis haben darauf unterschiedliche Antworten, da sie sich je nach Lebensalter in unterschiedlichen Situationen befinden. David ist als einziger in den USA geboren und kennt keine andere Heimat. Seine Mutter Monica (Han Ye-ri) ist nach zehn Jahren im Land so weit, sogar in die Kirche zu gehen, um neue Kontakte zu knüpfen. Denn Vater Jacob (Yeun) ist nur mit dem Aufbau der Farm, nicht mit dem des Soziallebens beschäftigt.

Filminfos

»Minari«
USA 2020
Buch und Regie: Lee Isaac Chung
Darstellende: Steven Yeun, Youn Yuh-jung, Han Ye-ri, Alan Kim
Produktion: Plan B Entertainment
Verleih: Prokino
Länge: 115 Minuten
Start: 15. Juli 2021

Zur Unterstützung holen sie deshalb Monicas Mutter Soon-ja (Youn) in die USA, die hier nun auf einen Enkel trifft, der sie als fremd empfindet. Warum riecht die Oma so anders? Und warum backt sie nicht wie eine normale Großmutter Kekse? Besonders aus den Begegnungen von David und Soon-ja gewinnt »Minari« seine Situationskomik, die vom Feinen durchaus ins Grobe kippen kann, etwa wenn David den stinkenden Kräutertee der Oma durch etwas noch Unappetitlicheres ersetzt. Hier vollzieht sich der culture clash inmitten der eigenen Familie.

Die Bandbreite der Erfahrungen der Yis spiegelt sich in Cast und Crew von »Minari« wider. Für das Ensemble konnte Chung mit Youn einen Star des koreanischen Kinos gewinnen, gleichzeitig heuerten zwei amerikanische Kameraleute an, weil sie aus Korea adoptiert worden waren und nun Zeit mit Koreanerinnen und Koreanern verbringen wollten. »Wir wollten zusammen han erkunden, dieses nicht zu übersetzende koreanische Konzept von Sehnsucht und Trauer über Verlorenes, das uns alle verbindet«, sagt Chung.

Keine Versprechungen

Eine Vorstellung von han bekommt man beim Sehen von »Minari« tatsächlich, denn Chung erzählt alles andere als erbaulich. Das aufgestockte Wohnmobil, in dem die Yis in Arkansas unterkommen müssen, weil Vater Jacob alles Geld in den Gemüseanbau stecken will, ist feucht und ungemütlich. Die Farm hingegen braucht viel mehr Wasser, als es die erschlossenen Grundwasserbestände eigentlich hergeben. Jacob beschließt deshalb, einen Rutengänger anzuheuern, der weitere Wasserquellen finden soll. Als der sich mit seinem gegabelten Stock zur Begehung des Landes aufmacht, schaut Jacobs Familie staunend zu: An was für einen Unfug man hier offensichtlich glaubt. Und was Jacob alles bereit ist, für seinen Traum von der Eigenständigkeit zu geben.

»Minari« macht keine Versprechungen, ob dieser Traum in Erfüllung gehen wird. Aber er lässt auch nicht an den Widrigkeiten verzweifeln. »Früher dachte ich, dass wichtige Filme düster und grimmig sein müssen«, sagt Chung. »Seitdem meine Tochter auf der Welt ist, sind Hoffnung und Optimismus ein größerer Teil meines Lebens. Diesen Film habe ich als Vermächtnis an meine Tochter gedacht. Wenn sie ihn in 10, 20 Jahren sieht, soll sie daraus Zuversicht schöpfen.«

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