Missbrauchsfilm "Die Jagd" Der Mann muss ein Schwein sein

Hat er das Mädchen angefasst? Sicher, die Kleine lügt doch nicht! Das Kinodrama "Die Jagd" erzählt präzise und spannungsreich, wie der Vorwurf des Kindesmissbrauchs ein ganzes Dorf dazu verleitet, zu den Waffen zu greifen. In der Rolle des Gejagten: der phantastische Mads Mikkelsen.

Soll er das Papierherz annehmen? Lucas (Mads Mikkelsen) kennt sich noch nicht so gut aus im Kindergarten. Weil das Gymnasium in seinem beschaulichen Heimatort wegen Schülermangels schließen musste, arbeitet der Lehrer gezwungenermaßen als Erzieher. Trotzdem weiß er schon so viel: Die fünfjährige Klara (Annika Wedderkopp) soll ihr Kunstwerk lieber an einen Jungen aus der Kindergruppe verschenken als an ihn, den besten Freund ihres Vaters.

Dankend lehnt Lucas das Geschenk ab - und löst damit eine Kränkung aus, die darin mündet, dass Steine durch seine Fenster fliegen und er im Supermarkt verprügelt wird. Denn aus Rache bezichtigt Klara ihn der sexuellen Nötigung und bringt damit fast das gesamte Dorf gegen ihn auf. "Die Jagd" ist eröffnet.

Seit der Premiere im Wettbewerb von Cannes 2012 ist der Film als Comeback des einstigen Regie-Wunderkinds Thomas Vinterberg bejubelt worden. Als Mitbegründer der Dogma-95-Bewegung hatte der Däne mit seinem Debüt "Das Fest" (1998) eine Flut von Preisen gewinnen können und wurde als Kino-Erneuerer gefeiert. Mit jedem folgenden Film nahmen Beachtung und Anerkennung jedoch ab, obwohl etwa das Endzeitmärchen "It's All About Love" mindestens so interessant wie "Das Fest" war. Nur war es eben nicht "Das Fest".

Mit "Die Jagd" schließt Vinterberg 14 Jahre später wieder an Ästhetik und Thema an, die ihn einst berühmt gemacht haben. In unmittelbaren, naturalistisch anmutenden Bildern erzählt er zusammen mit seinem Co-Autor Tobias Lindholm, wie eine eng verwobene Gemeinschaft mit dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs umgeht. Für das Drehbuch zu "Die Jagd" wurden die beiden zuletzt beim Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. Zuvor hatten sie schon gemeinsam an Vinterbergs "Submarino" gearbeitet, einem sperrigen, exploitativen Sozialdrama, das 2010 im Wettbewerb der Berlinale lief, in Deutschland aber nicht einmal auf DVD erschien.

Mehr Anerkennung hat Lindholm für seine Bücher zu "Borgen - Gefährliche Seilschaften" erfahren (siehe auch Bildergalerie unten). Die international vielfach ausgezeichnete Erfolgsserie dreht sich um eine fiktive dänische Ministerpräsidentin, die neben dem Staat auch den Zerfall ihrer Familie managen muss. Zu den Erzählprinzipien gehört die Identifikation mit den drei Hauptfiguren - in jeder Szene muss daher mindestens eine der drei Figuren zu sehen sein.

Zu schön als Paria?

Ähnlich unnachgiebig rückt "Die Jagd" seine Hauptfigur Lucas in den Mittelpunkt. Vom Close-up, in dem seine blutunterlaufenen Augen sichtbar werden, bis zur Totalen, in der er nackt in einen Badesee springt, lässt ihn die Kamera von Charlotte Bruus Christensen nicht aus den Augen - und verdoppelt damit das Motiv der Kontrolle, das so konstitutiv für das Leben in der Dorfgemeinschaft ist.

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Foto: DRFoto/ ARTE

Mit einem schwächeren Hauptdarsteller hätte die Allgegenwärtigkeit einer einzelnen Figur schnell in Redundanz münden können, doch Mikkelsen meistert die Herausforderung, das Publikum über fast zwei Stunden zu fesseln, scheinbar mühelos. Als "wahrhaftig" hat Thomas Vinterberg Mikkelsens Spiel beschrieben, aber auch hinzugefügt, dass er von dessen gutem Aussehen anfangs so überrumpelt war, dass er ihn zunächst zurecht stutzen wollte. Doch dann habe er gemerkt, was für ein "freundlicher, großzügiger, heldenhafter Team-Player"  Mikkelsen sei und sich auf ihn eingestellt.

Mikkelsens Bescheidenheit sorgt denn auch dafür, dass "Die Jagd" zwar einen Höhepunkt in seiner eh glanzvollen Karriere markiert - in Cannes wurde er als bester Darsteller ausgezeichnet -, sich aber nicht wie ein dröhnender Großschauspielerauftritt ausnimmt. Sein Lucas ist ein feinfühliger Mensch, der nach Scheidung und Jobverlust vorsichtig ein neues Leben aufbaut und dabei überprüft, welche Art von Männlichkeit er eigentlich leben will. Das verläuft nicht ohne Unsicherheiten: Einmal verteidigt Lucas vor seiner Ex selbstbewusst, dass er jetzt als Kindergärtner arbeitet. Wenig später reagiert er irritiert, als ihm seine attraktive Kollegin Nadja (Alexandra Rapaport) Avancen macht.

Nur einer Sache scheint sich Lucas sicher zu sein: dass er ein Recht darauf hat, glücklich zu sein. Diese Gewissheit verleiht ihm die Ruhe, sich in seiner neuen Lebensphase einzufinden, lässt ihn später aber, als das mühsam Aufgebaute einzustürzen droht, umso verbissener kämpfen. Er will an diesem Ort und in dieser Gemeinschaft bleiben und ist bereit, dafür Schläge ebenso einzustecken als auch auszuteilen. Doch wer ist eigentlich sein Gegner?

Die große Stärke der Geschichte ist es, dass sie keine Schuldzuweisung macht. Klara lügt, doch als sie ihre Worte zurücknehmen will, hören die Erwachsenen, die Kinder doch so ernst nehmen wollen, nicht mehr zu. Die Verteidiger kindlicher Unschuld haben Fährte aufgenommen, in ihrem moralischen Jagdfieber aber verlieren sie selbst ihre Unschuld.

Als Agitationstück gegen Tugendterror oder politische Korrektheit taugt "Die Jagd" aber auch nicht. Ein psychologisch geschulter Freund der Leiterin des Kindergartens soll Klara befragen. Er drängt das Mädchen nicht so sehr in eine Richtung, sondern will vor allem eine Antwort, die Klarheit bringt - zwei, drei Worte, die über das Schicksal eines Menschen entscheiden. Als Klara sie ausgesprochen hat, macht sich unter den Erwachsenen eine perverse Zufriedenheit breit. Die schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet!

So zeigt der Film die Mechanismen einer Gesellschaft, die keine Uneindeutigkeit ertragen kann, die nur schuldig oder unschuldig kennt, bei der man mitjagt - oder selbst zum Gejagten wird.

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