Zum Tod von Monica Vitti Eine moderne Frau, ein moderner Mensch

Monica Vitti 1964 in »Rote Wüste«
Foto:ddp images / ddp
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Ihr Nacken war es, der Monica Vitti einst ins Kino oder besser gesagt: in die Filme von Michelangelo Antonioni brachte. Bei einer Stippvisite in einem Synchronstudio sah der Regisseur die angehende Schauspielerin nur von hinten. »Du hast einen schönen Nacken. Du solltest in Filmen spielen.«
So jedenfalls soll eine der schönsten Zusammenarbeiten der Kinogeschichte begonnen haben. Und weil weder Antonioni noch Vitti wegen romantischer Anekdoten und sentimentalem Erzählen später zu Weltstars wurden, sondern im Gegenteil psychologische Brüchigkeit und formales Experiment ins Kino brachten, kann man dieser Legende gut und gern Glauben schenken.
In vier Filmen von Antonioni spielte Vitti letztlich mit, in jedem einzelnen ist sie unvergesslich. Geboren 1931 als Maria Luisa Ceciarelli fühlte sich die Römerin schon in jungen Jahren zum Schauspiel hingezogen. Erste Theaterrollen brachten ihr hervorragende Kritiken ein, 1954 erfolgte ihr Kinodebüt in »Ridere, ridere, ridere«. Sechs Jahre später besetzte sie Antonio schließlich in »L'avventura« (»Die mit der Liebe spielen«). Bei der Premiere in Cannes zunächst ausgebuht, gilt der Film mittlerweile als einer der besten des 20. Jahrhunderts.
Niemandes Mitgefühl
In »L'avventura« spielt Vitti eine Frau, deren beste Freundin während einer Bootstour im Mittelmeer verschwindet. Zusammen mit dem Mann der Freundin macht sie sich auf die Suche, doch das Ziel wird immer unklarer, je näher sich die beiden kommen. Mal scheint sich eine Kriminalgeschichte zu entspinnen, dann rücken plötzlich Impressionen aus dem Leben der italienischen Oberschicht in den Fokus.
Fragmente von Gefühlen und Konflikten setzen sich dabei nicht zusammen, sie bleiben so unlesbar wie Vittis kantiges Gesicht, das die Blicke auf sich zieht und Identifikation gleichzeitig abwehrt. Ihre Figur steht für niemanden außer sich selbst, sie braucht niemandes Mitgefühl. Wohl gerade deshalb gelingt Vitti in »L'avventura« die Verkörperung eines neuen Typus von Frau – einer Frau, die sich von der Ausdeutung durch Männer gelöst hat und sich aus den ständig multiplizierenden Angeboten der kapitalistischen Nachkriegsgesellschaft ihre eigene Identität zusammenzubauen versucht.

Vitti mit Marcello Mastroianni in »La notte«
Foto: ddpNach einer Nebenrolle in Antonionis »La notte« von 1961, der den Niedergang einer Ehe innerhalb einer einzigen Nacht beschreibt, und der von Vitti als Nebenbuhlerin der Ehefrau nur noch beschleunigt wird, wird die Fabrikation der eigenen Identität in »L'eclisse« (»Liebe 1962«, auch: »Sonnenfinsternis«) schließlich zum brüchigen Erzählprinzip.
Vittis Figur Vittoria beginnt den Film mit einem Ende: Sie bricht eine Beziehung ab. Eine neue Affäre, diesmal mit dem Börsenhändler Piero (Alain Delon), scheint sich anzubahnen und wird doch wie die anderen Episoden, die Vittoria sowohl durch Rom als auch mit einem Mal nach Verona führen, emotional nie greifbar. »Alienazione« nannte Vitti selbst das, was ihre Figuren erfuhren: Entfremdung, Vereinzelung.
Das Unbehagen einer ganzen Generation
So universell diese Gefühle auch sind, waren es im Kino die längste Zeit fast ausnahmslos Männer, die sie zum Ausdruck bringen sollten. Bei Antonioni hingegen konnte Vitti nicht nur moderne Frau, sondern auch moderner Mensch sein: In ihr kristallisierte sich das Unbehagen einer ganzen Generation an der Konsumgesellschaft und ihren Pathologien.
In ihrem letzten gemeinsamen Film, »Rote Wüste«, überführten sie 1964 diese Diagnose mit unbarmherziger Konsequenz in die Dystopie. In einer (post)industriellen Landschaft, die von Giftmüll und Ruinen gezeichnet ist, wird Vittis Figur langsam, aber unaufhaltbar verrückt. Alle Fallstricke weiblicher Hysterie, die sich weniger kluge Künstler selbst gespannt hätten, vermeiden Vitti und Antonioni hier. Noch bevor es Gilles Deleuze und Félix Guattari 1972 in »Anti-Ödipus« theoretisierten, brachten sie in »Rote Wüste« zum Ausdruck: Verrückt zu werden ist womöglich die vernünftigste Art, um auf die Zumutungen der Welt zu reagieren.
Nach »Rote Wüste« trennten sich die Wege von Vitti und Antonioni, künstlerisch wie auch privat. Ein architektonisch kurioses Haus im Norden Sardiniens, »la grande cupola« genannt, hätte ihr Zuhause werden sollen. Nun gemahnt es seit bald sechzig Jahren an das Ende dieser außergewöhnlichen Beziehung. Antonio schrieb dort noch das Drehbuch zu »Zabriskie Point«, kurze Zeit später zog es ihn für »Blow Up« ins Ausland.
Vittis Abkehr war noch radikaler. Nach einem Ausflug nach Hollywood, der sich als Flop erwies, drehte sie noch mit Ettore Scola und Luis Buñuel, bevor sie sich dem Komödienfach zuwandte und mit Unterhaltungsfilmen ein neues Publikum in der Heimat gewann. Fünfmal wurde sie mit dem David-di-Donatello-Preis als beste Darstellerin geehrt, mit knapp 60 Jahren gab sie 1990 mit »Scandalo segreto« noch ihr Regiedebüt.
Ein Auftritt in dem Fernsehfilm »Ma tu mi voi bene?« schloss ihre Karriere als Darstellerin ab, 1995 ehrten sie die Filmfestspiele von Venedig für ihr Lebenswerk. »Ich habe mein Leben, meinen Verstand, meine Augen, einfach alles meiner Arbeit gewidmet«, sagte sie aus Anlass einer großen Fotoausstellung zu ihren Ehren in Rom. »Ich habe vom Kino viel gelernt und glaube, dass ich alles gegeben habe, was mir möglich war.«

Vitti 1995 in Venedig
Foto: picture alliance / PhotoshotAb 2003 zog sich Vitti aus der Öffentlichkeit zurück, eine Alzheimererkrankung setzte ihr zu. Am 2. Februar 2022 verstarb sie im Alter von 90 Jahren.