Musik-Fan Wim Wenders "Rockstars sind begnadete Selbstdarsteller"
SPIEGEL: Herr Wenders, Sie gelten als wohl größter Pop-, Rock- und Blues-Fan unter den Meistern des Weltkinos. Wissen Sie noch, welche die allererste Platte war, die Sie sich als Junge in Düsseldorf kauften?

Regisseur Wenders, Musiker Campino: "Ein echter Darsteller"
Foto: Donata WendersWenders: Die war von Chuck Berry. Nein, das war in Wahrheit die zweite. Die wirklich erste Single verschweige ich immer, weil sie mir ein bisschen peinlich ist. Das war "Petite Fleur" von Chris Barber.
SPIEGEL: Wie viele Platten und CDs besitzen Sie heute?
Wenders: Etwa 5000 LPs und vielleicht doppelt so viele CDs. Das wären eigentlich mehr, aber ich hatte 1993 einen Einbruch in Berlin, da haben sie meine gesamte Wohnung leergeräumt. Computer, Stereoanlage, Kameras und meine damalige CD-Sammlung, alles weg. Nur das ganze Vinyl haben sie mir freundlicherweise gelassen.
SPIEGEL: Sie haben mit berühmten Musikern wie Lou Reed und Bono gearbeitet, haben Musikfilme wie "Buena Vista Social Club" gedreht und lassen in Ihrem neuen Film "Palermo Shooting" den deutschen Rocksänger Campino die Hauptrolle spielen. Was fasziniert Sie so an Musikern?
Wenders: Ihre Präsenz. Rockstars sind begnadete Selbstdarsteller. Das heißt nicht, dass sie auch als Schauspieler toll sind. Denn dafür muss man sich auf eine Rolle einlassen, nicht einem Image nachkommen. Als Mick Jagger zum Beispiel ein paar Wochen lang für Werner Herzog in "Fitzcarraldo" mitspielte, ist er immer Mick Jagger geblieben. Deshalb mussten Herzog und Klaus Kinski dann noch einmal neu anfangen. Dagegen ist Campino bei mir jetzt ein echter Darsteller, der die Rolle des Fotografen Finn bis ins Mark verkörpert. Campino hat richtige schauspielerische Arbeit geleistet.
SPIEGEL: Das haben nach der "Palermo Shooting"-Premiere in Cannes manche Kritiker glatt bestritten. Alle aber lobten die exquisite Musikauswahl Ihres Soundtracks. Können Sie erklären, warum sich Ihr Held Finn mit dieser großartigen Rockmusik ununterbrochen die Rübe zuknallt?
Wenders: Weil er sich nur so konzentrieren kann. Mir gehts ja genauso. Auch ich höre gern Musik beim Arbeiten. Brüllend laut. Leider kann ich beim Schreiben zu Hause nicht so laut Musik machen, wie ich gerne würde. Da habe ich meist Kopfhörer auf.
SPIEGEL: Wer hindert Sie, Ihre Frau?
Wenders: Eher unsere Wohnungsnachbarn in Berlin. Die würden sich durch laute Musik gestört fühlen. Als wir noch in Los Angeles wohnten, hatte ich eine Garage zum Büro umgebaut, die hatte doppelte Wände. Da konnte ich jede Lautstärke spielen, das hat niemanden gestört. Das war super. Ich kann in jeder Lebenssituation laut Musik hören und dabei sehr konzentriert sein.
SPIEGEL: Gibt es Musik, die Sie nicht mögen?
Wenders: Mit Opern und Musicals kann ich nichts anfangen, die sind nicht mein Bier. Auch für Techno und DrumnBass kriege ich trotz ernsthafter Anstrengungen kein Gefühl. Ich weiß nicht, ob das eine Generationenfrage ist. Ich höre lieber Instrumente. Ich finde auch einen Großteil deutscher Schlagermusik unausstehlich. Nur mit Drafi Deutscher konnte ich in den sechziger Jahren was anfangen, den fand ich erstaunlich. Der war der Einzige, der in dieser gequirlten ZDF-Hitparaden-Scheiße so eine Art RocknRoll-Haltung zelebriert hat. Ja, und dann gabs Rio Reiser.
SPIEGEL: Spielt Musik in Ihrem Leben heute eine andere Rolle als in jungen Jahren?
Wenders: Ich empfinde sie als wichtiger. Ich habe festgestellt, dass ich mich von einem reinen Bildmenschen mehr und mehr hin zu einem entwickle, der von Musik getrieben wird. Bei "Palermo Shooting" war die Musik essentieller für die Komposition des Films als je zuvor.
SPIEGEL: Hat Sie ein bestimmtes Lied zu "Palermo Shooting" inspiriert?
Wenders: Einige. Aber ich kann eines hervorheben, einen Wahnsinnssong von Bonnie Prince Billy, "Death to Everyone". Das ist sozusagen die Hymne des Films. Ich hatte die Geschichte in groben Zügen schon im Kopf. Nur ob und wie mein Fotograf Finn dem Tod ins Auge schauen würde, das wusste ich nicht genau, und da hat mich die Musik echt inspiriert. Ich habe mich gefragt: Warum gelingen Musikern solche Songs über den Tod, während einem im Kino jeder sagt, dass man bloß keinen Film machen soll über dieses Thema?
Die Rolling Stones sagten nur noch "njet".
SPIEGEL: Weil man der Musik Kitsch leichter verzeiht?
Wenders: Der Musik verzeihe ich vieles, was man sonst womöglich Kitsch nennen könnte. Auch Texte, bei denen man beim Lesen denkt: Das darf doch nicht wahr sein, dass sich einer traut, das so zu sagen! Wenn man das dann aber im Konzert hört, singt man aus vollem Herzen mit. Solche Texte gibt es bei Rio Reiser und Ton Steine Scherben linker Kitsch, wenn Sie so wollen bis hin zu Grönemeyer und Xavier Naidoo. Und vor allem auch bei den Toten Hosen. Und plötzlich singt man in der Westfalenhalle mit 20.000 anderen Leuten: "Wofür man lebt" oder "Alles wird vorübergehen".
SPIEGEL: Und diese phänomenale Überredungskraft der Musik wollten Sie nun für das Medium Film nutzen?
Wenders: Ich habe über Jahre mit Musik gelebt und gearbeitet, daraus entstand die Neugier: Was geht noch zwischen Musik und Film? Ich dachte: Vielleicht muss man mal einen Film angehen wie einen Rocksong. Und das muss dann Campino spielen.
SPIEGEL: Ist es in der Filmgeschichte nicht praktisch immer schiefgegangen, wenn Rockstars vor der Kamera standen?
Wenders: Allerdings. Aber auch die Rockmusik ist im Kino nie so gut weggekommen. Von allen Musikfilmen ist "The Girl Cant Help It" mit Gene Vincent und Eddie Cochran noch derjenige, in dem RocknRoll einigermaßen vernünftig auf der Leinwand rüberkommt. Alle Filme mit Elvis dagegen fand ich immer unsäglich. Aus Treue zu Elvis habe ich ja alle gesehen.
SPIEGEL: Was halten Sie von den Filmen Bob Dylans, den Sie ja kennen und verehren?
Wenders: Ein schwieriges Kapitel. Sam Peckinpahs "Pat Garrett jagt Billy the Kid" finde ich großartig. In der restaurierten Fassung, die vor drei Jahren herauskam, sind sogar ein paar Szenen mit Dylan wieder drin, die in der Kinofassung von 1973 nicht drin waren. Ein großes Vergnügen.
SPIEGEL: Und die Filme, die Dylan selbst gedreht hat?
Wenders: Bei "Renaldo und Clara" von 1978 habe ich die Entstehungsgeschichte ein bisschen mitbekommen, weil meine spätere Frau Ronee Blakley darin mitspielte. Der Cutter war einer unserer Nachbarn, der ist am Schnitt dieses Films zugrunde gegangen. Am Ende hat er sich umgebracht, vielleicht nicht allein deswegen, aber sicher auch. Er hat uns immer neue Fassungen gezeigt, aber es war jedes Mal schlimmer. Der Film wurde mit fortlaufendem Schneiden immer unzusammenhängender. Als dann 2003 der Dylan-Film "Masked And Anonymous" herauskam, war ich in der ersten Vorführung, an einem Nachmittag in Santa Monica. Es war gerammelt voll, alles Hardcore-Dylan-Fans, wir saßen voller Erwartung da. Am Ende blieb es völlig still. Nicht, weil wir irgendwie ergriffen waren, sondern weil wir uns fragten: Was, das solls gewesen sein? Ich habe noch nie einen so großen Haufen enttäuschter Menschen gesehen. Es war ein richtig verbittertes Schweigen.
SPIEGEL: Wann sind Sie Dylan begegnet?
Wenders: Zum ersten Mal ins Gespräch gekommen sind wir bei einer Party zu Ehren von Rickie Lee Jones. Dylan war angekündigt, und als er in den Raum kam, wurde es mucksmäuschenstill. Er hat sich stumm hingesetzt und einen Tee bestellt. Dann hat Rickie Lee zaghaft versucht, sich mit ihm zu unterhalten. Es half nichts, Dylan blieb stumm. Alle haben ihn schweigend beobachtet und zugeschaut, wie er Tee trinkt, drei Kannen hintereinander. Da habe ich mich unverfroren zu ihm gesetzt und angefangen, über Filme zu reden, genau genommen über Rainer Werner Fassbinder. Ich wusste, dass er den mochte. Das hat ihm unglaublich gutgetan: dass jemand einfach ein Gespräch mit ihm anfing, das sich nicht um ihn selber drehte. Er hat eine Stunde mit mir über Fassbinder geredet.
SPIEGEL: Haben Musiker Sie in der persönlichen Begegnung je enttäuscht?
Wenders: Die Rolling Stones. Mick Jagger hat mich vor zehn Jahren nach Paris eingeladen, wegen eines Films, den ich über die Band drehen sollte. Das ging nicht von mir, sondern von denen aus. Alles war ganz nett, dann hab ich ein Konzept geschrieben. Und auf einmal war das vollkommen abgefuckt, nur noch Business, es kam nur noch "njet". Mick wollte was Couragiertes, also hab ich was Couragiertes geschrieben, aber dann war die Courage weg. Eigentlich wollten die eben doch keinen Wenders-Film, sondern nur einen nach ihren eigenen Regeln.
SPIEGEL: Der Legende nach haben Sie einst Ihr Saxofon gegen eine Kamera getauscht. Hatten Sie selber davon geträumt, ein großer Musiker zu werden?
Wenders: Das ist keine Legende. Aber ich war nicht besonders gut auf meinem Tenorsaxofon und habe es eines Tages in ein Pfandleihhaus in der Düsseldorfer Altstadt reingetragen. Und exakt für den Betrag, den ich dafür bekommen habe, habe ich eine Bolex-Kamera mit drei Objektiven mit nach Hause genommen.
SPIEGEL: Verraten Sie uns zum Schluss Ihr peinlichstes Lieblingslied?
Wenders: Da gibt es eine Menge. Vielleicht "Wild Thing" von den Troggs? Ein grausames Lied, aber ich habe es heiß und innig geliebt. Das war eigentlich eine grottenschlechte Band. Aber RocknRoll!
Das Interview führten Christoph Dallach und Wolfgang Höbel