Neuer Film von Emir Kusturica Alles auf einmal

Neuer Film von Emir Kusturica: Alles auf einmal
Foto: WeltkinoAufgeregt schlägt die Gänseschar mit den Flügeln, denn das Schwein, das da im Stall geschlachtet wird, macht einigen Lärm. Sein Blut füllt bald eine Badewanne, in der die Gänse fröhlich baden. Ihr weißes Gefieder färbt sich rot - das will gewiss etwas bedeuten. Emir Kusturicas neuer Spielfilm "On the Milky Road" führt ins ländliche Ex-Jugoslawien des Bürgerkriegs.
Hier passiert der Milchmann Kosta Tag für Tag unversehrt die Frontlinie, auf seinem Esel, mit einem Regenschirm, der ihn vor dem Kugelhagel schützen soll und diese Aufgabe absurderweise erfüllt. Das Leben ist gefährlich, aber Kusturica zufolge auch wild und bunt, mit Tanzfesten zu schnellem Balkan-Beat und schönen, exzentrischen Frauen, die in gepunkteten Kleidern ihre vollen Brüste schwenken.
Kosta wird von der gelenkigen Dorfschönheit Milena (Sloboda Micalovic) zum Bräutigam erwählt. Sie spielt in der Kneipe schon mal mit dem Revolver, während der Barmann seine Gläser mit dem Fön trocknet. Doch dann verliebt sich der Milchmann in einen Neuzugang: eine geheimnisvolle Italienerin, die beim Schauen von Michail Kalatozows sowjetischem Filmklassiker "Wenn die Kraniche ziehen" regelmäßig in Traurigkeit verfällt. "Die Braut", wie sie genannt wird, ist allerdings schon dem Kriegshelden Zaga, Milenas Bruder, versprochen und wird von ihrem rachsüchtigen Ex-Mann gejagt. Ohne nachzudenken, brennen Kosta und "die Braut" miteinander durch.
Fast wie in einer Nummernrevue
"On the Milky Road" beruht Emir Kusturicas Angaben zufolge auf "drei wahren Geschichten und jeder Menge Fantasie". Der Film wirkt denn auch wie eine Pizza mit zu viel Belag, die einen indes auch sättigt und erfreut, wenn man die wohltemperierte Küche des Kinos einmal satt hat. Kamerakreisfahrten en masse lassen den Zuschauer schwindeln; Einfall reiht sich an Einfall, fast wie in einer Nummernrevue. Milena etwa lebt mit ihrer wehrhaften, alten Mutter in einem Hexenhäuschen mit einer riesigen Uhr, in deren perfider Mechanik beide mitunter auf- und abgleiten müssen wie in einem Paternoster.
Eine durchgängige Aufgeregtheit prägt die Filmerzählung, der vor allem die Tiere unterworfen werden: Kostas Esel hört nicht auf zu schreien; die schon erwähnten Gänse rasen herum; ein neurotisches Huhn kämpft mit einem Spiegel; Katzen trollen sich; eine gefährlich aussehende Schlange trinkt verschüttete Milch, und ein zauberkräftiger Wanderfalke, Kostas "Bruder", hat von oben alles im Blick.

Emir Kusturica, 1954 in Sarajevo in eine serbisch-muslimischen Familie geboren und einst gefeierter Regisseur von Filmen wie "Zeit der Zigeuner" oder "Schwarze Katze, weißer Kater", wird seit seiner serbisch-orthodoxen Taufe im Jahr 2005 auch als Nemanja Kusturica geführt. Die Konversion zum Christentum ist nur ein Detail seines facettenreichen Lebens. So hat der Regisseur in den Nullerjahren das serbische Bergdorf Drvengrad mit einem eigenen Festival neu gegründet, was Kritiker gerade noch für exzentrisch halten konnten.
Zwischen Dementi und Polemik
Ernsthaft umstritten war er jedoch wegen seiner proserbischen Haltung zum Nationalitätenkonfikt auf ex-jugoslawischen Boden. Kusturica, immerhin zweifacher Champion des Wettbewerbs vom Filmfestival Cannes, wurde bereits beim zweiten Palme-d'Or-Gewinner "Underground" (1995) vorgeworfen, eine zu serbienfreundliche Haltung zu vertreten. Einigen Quellen zufolge war der Film unter der Hand teilweise vom damals Milosevic-kontrollierten Staatsrundfunk (Radio-Televizija Srbije) finanziert worden - was Kusturica ebenso dementierte wie eine Pro-Milosevic-Haltung.
Nationalistisches Engagement zeigte allerdings auch seine Band Emir Kusturica & The No Smoking Orchestra, die bei Auftritten polemisierte - mit Songs wie "Ne damo Kosovo" (dt.: "Wir geben Kosovo nicht her") und "Ko ne voli Radovana, ne video Durdevdana" ("Wer Radovan nicht liebt, möge den St.-Georgs-Tag nicht erleben" - gemeint ist Radovan Karadzic).
2010, beim Filmfestival in Antalya, sorgte Jurymitglied Kusturica schließlich für einen Eklat: Als ihm Protestierende vorwarfen, er habe während des Bürgerkriegs in Ex-Jugoslawien nicht gegen "ethnische Säuberungen" und die Morde an muslimischen Bosniern protestiert, reiste Kusturica ab. Doch zuvor relativierte er: Warum man sich so mit Srebrenica beschäftige, aber nicht über den türkischen Massenmord an den Armeniern rede, fragte er. Da hatte der türkische Regisseur Semih Kaplanolu längst seinen Festivalbesuch abgesagt - aus Protest gegen Kusturicas Anwesenheit.
"On the Milky Road"
Originaltitel: "Na mlije¿nom putu"
Serbien, Großbritannien, USA 2016
Regie und Drehbuch: Emir Kusturica
Darsteller: Emir Kusturica, Monica Bellucci, Sloboda Micalovic
Produktion: BN Films, Pinball London
Verleih: Weltkino Filmverleih
FSK: ab 16 Jahren
Länge: 125 Minuten
Start: 7. September 2017
Er habe immer nur ein vereintes Jugoslawien retten wollen, hat Emir Kusturica auf die Vorwürfe erwidert - im Nachhinein erklärte er das für "idiotisch". Und Songs wie "Radovana" würde er anders interpretieren - das sei seine Outlaw-Metaphorik. Auch in seiner Autobiografie "Der Tod ist ein unbestätigtes Gerücht. Mein bisheriges Leben" (2011) hat Kusturica seine Statements teils revidiert.
Wie in Ehrfurcht vor der Liebe
Mit "On the Milky Road" meldet er sich nun nach zehn Jahren Langfilmpause und eben genannten Kontroversen zurück und feiert Liebe, Glaube und Hoffnung. Den Milchmann Kosta spielt er selbst - wer würde nicht gern an der Seite von Monica Bellucci auftreten: Kusturicas Kosta ist ein schlicht wirkender Mensch, eine Art Friedensengel, offenbar reinen Herzens, der die schöne Fremde durchaus verdient zu haben scheint.
Bellucci ist es nämlich, die dieser überkandidelten Inszenierung mit ihrer reifen und doch schwerelosen Würde Halt verleiht, sie auf das Wesentliche zentriert: die Wahrhaftigkeit des Gefühls. Man hofft und bangt, dass sie Zaga (Predrag Manojlovi) entgeht, der nach Kriegsende aus Afghanistan einäugig und in Uniform ins Dorf heimkehrt.
Volkspoesie und Surrealismus, die jüngere Geschichte des Landes, Politik, der christliche Glaube, Botschaften der Humanität und magischer Realismus wollen untergebracht sein in "On The Milky Road" - da schnappt man schon mal nach Luft. Was der Film indes auch hätte werden können, offenbart sich im zweiten Teil. Da fliehen Kosta und die Italienerin vor den Freischärlern ihres Ex-Manns. Die schwarzen Killer sind bestens ausgerüstet; manchmal helfen nur noch Levitation, ein schilfreiches Gewässer oder eine Schafherde, ihnen zu entgehen.
In diesen Szenen wird der Film fast still - wie in Ehrfurcht vor der Liebe - und der Erzählton wendet sich ins Legenden- und Märchenhafte. Bis ein Minenfeld erreicht wird: Hier übernehmen wieder Anarchie und Hysterie, die indes ebenso kalkuliert sind wie die Auftritte Emir Kusturicas als großer Liebender.
Im Video: Der Trailer zu "On the Milky Road"