Oscar 2008 Der Methusalem-Bankrott

Der alte Onkel Oscar braucht keine Umarmung, sondern einen Tritt in den Hintern. Die 80. Gala zeigte sich ihrem Alter angemessen: Kaum Überraschungen, wenig Glanz, gepflegte Staubigkeit. Mit "No Country for Old Men" hat zumindest der richtige Film gewonnen.

Man hätte gerne laut "Change!" in den Saal gerufen. Der simple, aber effektive Slogan der Wahlkampagne Barack Obamas passt nicht nur zur dringend nötigen Zeitenwende in der Politik Amerikas, sie passt auch perfekt zu den Oscars, die in der vergangenen Nacht zum 80. Mal verliehen wurden.

Acht Jahrzehnte, die merkt man der Oscar-Show schon sehr deutlich an. In den letzten Jahren gab es immer wieder Rufe nach Veränderung, change, im Konzept der meistens vier- bis fünfstündigen Oscar-Zeremonie, die zwar immer noch zu den erfolgreichsten TV-Events Amerikas gehört, aber alljährlich Quoten und Zuschauer einbüßt. Die Zeiten, in denen Blockbuster wie "Titanic" der Oscar-Show Rekordquoten von 55 Millionen bescherten, sind seit gut zehn Jahren vorbei. Die Academy Awards, einst ein nationales Lagerfeuer-Ritual wie der Super-Bowl, droht zur Nischen-Veranstaltung zu verkommen, und die Veranstalter selbst sind daran nicht unschuldig.

Denn so viele verpasste Chancen und eine derart langweilige Verleihung wie gestern Nacht gab es selten. Dabei bot der in letzter Sekunde beendete Streik der Drehbuchautoren doch eigentlich genug Stoff für bissige Statements oder reflektierende Reden. Immerhin wäre die ehrwürdige Show beinahe ausgefallen, zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Was Kriege und Krisen nicht geschafft haben - der Streik der schreibenden Kreativzellen Hollywoods hätte es fast vollbracht.

Vielleicht war es diese Erkenntnis, trotz aller Helden- und Traumfabrikationen am Ende doch verletzlich zu sein, die sich wie Mehltau auf die Oscar-Show legte. Selbst der bestens aufgelegte Gastgeber Jon Stewart kam gegen diese Trägheit nicht an. Zumindest nicht dauerhaft. Nach einem furiosen Auftakt mit einer 3D-animierten Action-Collage geißelte Stewart die Redaktion des US-Magazins "Vanity Fair", die ihre traditionelle Glamour-Oscar-Party aus Solidarität mit den streikenden Autoren abgesagt hatte: "Nächstes Mal solltet Ihr dann vielleicht auch mal ein paar von den Autoren einladen."

Auch der Präsidentschaftswahlkampf kam in der Anfangsrede des TV-Comedians nicht zu kurz: Barack Obama sei wirklich nicht zu beneiden, denn er müsse nicht nur seinen Mittelnamen "Hussein" mit sich herumschleppen, eine ständige Erinnerung an den bösen irakischen Diktator; sein Nachname klinge noch dazu wie Osama bin Laden. Der letzte Präsidentschaftsanwärter, natürlich fiktiv, der ein ähnliches Schicksal teilte, sei 1944 Gaydolf Titler gewesen.

So weit, so lustig. Doch kaum wurden die ersten der insgesamt über 20 Awards verliehen, entwich der Schwung sehr merklich aus den Hüften der alten Show-Diva. Zum 80. Jubiläum wurde allerhand Archiv-Material gesichtet und in mehr oder minder kurzen Assemblagen vorgeführt. Eigentlich eine gute Idee, Nostalgie geht immer, aber die Montagen waren teilweise so stümperhaft und uninspiriert zusammengefügt worden, dass am Ende selbst die traditionell rührende Abfolge der im vergangenen Jahr Verstorbenen zur Pflichtübung geriet. Es fehlte an Esprit und Glamour, auch wenn die Bühnendeko funkelte und die Roben der Damen in edlem Rot und Schwarz glänzten.

So wurden die vier Stunden und 15 Minuten der diesjährigen Academy Awards zur Geduldsprobe, zumal auch die Preisträger selbst kaum Überraschungen boten. "No Country for Old Men", der blutrünstige Spätwestern der Coen-Brüder, galt schon im Vorfeld als Favorit. Mit vier Oscars, darunter Bester Film und Beste Regie, löst er jedoch nur die Hälfte der acht Nominierungen ein. Fast könnte man ein Proporzdenken der knapp 6000 Mitglieder zählenden Academy ausmachen: In diesem leidvollen Jahr soll jeder etwas bekommen, bloß keine Ausreißer, bloß keine zu klaren Statements.

So ging auch P.T. Andersons erdschweres Frühkapitalismus-Drama "There Will Be Blood" nicht leer aus, Hauptdarsteller Daniel Day-Lewis wurde - wie erwartet und hochverdient - als bester Schauspieler ausgezeichnet. Dazu gab es den prestigereichen Preis für die beste Kamera. Zwei von acht Nominierungen, das ist immer noch erfolgreicher als Mitbewerber "Michael Clayton", der von sieben Nominierungen, darunter auch Bester Film, nur eine einzige umsetzen konnte: Tilda Swinton setzte sich bei den Nebendarstellerinnen unter anderem gegen Cate Blanchett durch.

Einzig Marion Cotillards Sieg bei den Hauptdarstellerinnen darf als verblüffend gelten. Nichts gegen die Leistung der Französin als Edith Piaf in "La Vie en rose", aber Konkurrentinnen wie Julie Christie ("Away From Her") oder Cate Blanchett ("Elizabeth: The Golden Age"), ja, selbst Nachwuchstalent Ellen Page ("Juno") hätten den Oscar eher verdient. Die rührende Fassungslosigkeit Cotillards bei der Entgegennahme ihres Preises war jedoch ein emotionaler Höhepunkt, den die Show dringend brauchte.

Heimliche Schadenfreude beschlich den Zuschauer bei der Verleihung des Oscars für den besten Filmsong: Gleich dreimal waren die unangenehm reaktionären Showtunes von Alan Menken und Harry Warren aus Disneys Kitsch-Märchen "Enchanted" nominiert. Damit nicht genug: Sie wurden auch noch alle drei aufgeführt! Am Ende gewann jedoch der Popsong "Falling Slowly" aus dem sympathischen Low-Budget-Film "Once". Der irische Gitarrist Glen Hansard und die tschechische Pianistin Marketa Irglová lieferten dann auch eine der beherzteren Dankesreden ab. "Make art!", macht Kunst!, rief Hansard dem Hollywood-Establishment mit naiver Freude zu.

Doch das hatte beschlossen, bei der gerade noch geretteten Zeremonie kein künstlerisches Risiko einzugehen. Stattdessen sponn man sich in einen Kokon aus seliger Selbstbeweihräucherung ein. So knorrig, grimmig und düster die in diesem Jahr nominierten Filme waren, so betont zurückhaltend und unpolitisch gab man sich bei der Preisverleihung. So bescheiden gar, dass die meisten Oscars an ausländische Künstler gingen: Javier Bardem (bester Nebendarsteller in "No Country for Old Men"), Daniel Day-Lewis, Tilda Swinton, Marion Cotillard - Amerikas Liebe zu britischen und europäischen Darstellern scheint ungebrochen. Einheimische Glamour-Schwergewichte wie Tom Hanks, Brad Pitt, Denzel Washington und Julia Roberts hatte man trotz herausragender Leistungen nicht nominiert. Sie hätten den Celebrity-Faktor - und damit auch das Zuschauerinteresse an der Show allerdings um einiges verstärkt.

"Does this town need a hug?", braucht Hollywood eine liebevolle Umarmung, fragte der New Yorker Jon Stewart zu Beginn in das Kodak Theatre, im Bewusstsein, dass Katerstimmung im Raum schwebte. Nach einer unausgegorenen Show wie dieser, bei der die mutigen und sperrigen Filme ausgezeichnet wurden, das Drumherum aber in Belanglosigkeit, erstarrter Grandezza und mattem Nostalgie-Getändel versuppte, wünscht man sich mehr denn je einen Neuanfang, der mit dem politischen Wechsel im November einher gehen könnte: Kürzer, kritischer, provokanter, relevanter könnten die Oscar-Galas sein, wenn sie nur wollten.

Es bleibt ein schaler Nachgeschmack: Denn mit der Präsidentschaft George W. Bushs geht eine historische Periode zu Ende, die einige der kritischsten und kontroversesten Filme seit der New-Hollywood-Ära der siebziger Jahre hervorgebracht hat. Statt Watergate und Vietnam-Krieg gab es 9/11 und den Irak-Krieg, und vor allem die unabhängigen Produzenten drehten Filme, die diese schwierige Zeit der Verunsicherung ohne Kitsch und Pathos, aber mit viel Mut und Gefühl abbildeten - von offener Agitprop wie Michael Moores "Fahrenheit 9/11" bis hin zu "Brokeback Mountain" und jetzt "There Will Be Blood" und "No Country for Old Men".

Die Preisträger im Überblick

Bester Film "No Country for Old Men"
Bester Hauptdarsteller Daniel Day-Lewis ("There Will Be Blood")
Beste Hauptdarstellerin Marion Cotillard ("La Vie en Rose")
Bester Nebendarsteller Javier Bardem ("No Country for Old Men")
Beste Nebendarstellerin Tilda Swinton ("Michael Clayton")
Bester Regisseur Joel Coen and Ethan Coen ("No Country for Old Men")
Bester fremdspachiger Film "Die Fälscher" (Österreich)
Bestes adaptiertes Drehbuch Joel Coen Ethan Coen ("No Country for Old Men")
Bestes Originaldrehbuch Diablo Cody ("Juno")
Bester animierter Spielfilm "Ratatouille"
Beste Art Direction "Sweeney Todd"
Beste Kamera "There Will Be Blood"
Bester Ton "Das Bourne Ultimatum"
Bester Tonschnitt "Das Bourne Ultimatum"
Beste Filmmusik "Atonement" - Dario Marianelli
Bester Song "Falling Slowly" aus "Once" (Glen Hansard and Marketa Irglova)
Bestes Kostümdesign "Elizabeth: The Golden Age"
Bester Dokumentarfilm (lang) "Taxi to the Dark Side"
Bester Dokumentarfilm (kurz) "Freeheld"
Bester Filmschnitt "The Bourne Ultimatum"
Bestes Make-Up "La Vie en Rose"
Bester animierter Kurzfilm "Peter the Wolf"
Bester Kurzfilm "Le Mozart des Pickpockets"
Beste visuelle Effekte "The Golden Compass"
Honorary Award Robert Boyle

Und was haben die Show-Veranstalter rund um Dauer-Produzent Gil Cates und Academy-Präsident Sid Ganis aus dieser für das Volk so furchtbaren, fürs Kino so fruchtbaren Phase gemacht? Sicher, die richtigen Filme wurden meistens prämiert, die Show aber blieb stets so staubig wie vor 80 Jahren. Das kann man gut finden, wenn man nach Konstanten im Leben sucht. Und deshalb umarmt man die Oscar-Show auch jedes Jahr wieder mit derselben Empathie. Manchmal aber möchte man der alten Schachtel einfach mal kräftig in den Hintern treten.

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