Eklat um Abtreibungsdrama
Der alte Mann und der Oscar
Der Oscar soll diverser werden. Aber wie soll das gehen, wenn er immer noch von einem Altherrenklub vergeben wird? Jetzt gab es im Vorfeld der Nominierungen Streit über ein gefeiertes Abtreibungsdrama.
Der Film wurde auf etlichen wichtigen Festivals begeistert aufgenommen, bei der Berlinale 2020 galt er als einer der Favoriten für den Goldenen Bären. Und jetzt wird »Never Rarely Sometimes Always« sogar als Kandidat für den Oscar gehandelt. Branchenexperten geben der Produktion gute Chancen, es auf die Liste der nominierten Filme zu schaffen, die am 15. März bekannt gegeben werden.
Doch einer, der darüber mitentscheidet, wer bei den Oscars gewinnt, wird sich »Never Rarely Sometimes Always« gar nicht erst anschauen: Der Filmemacher Kieth Merrill (»Einsatz auf vier Pfoten«) ist Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, in deren Händen die Oscar-Vergabe liegt. Und er ist konservativer Christ.
Und als solcher reibt er sich an dem Inhalt von »Never Rarely Sometimes Always«, ohne eben den Film überhaupt gesehen zu haben. Denn es geht um das Thema Abtreibung.
Filmemacherin Eliza Hittman (l.) bei Dreharbeiten: Wird der Oscar von »alten, weißen, puritanischen weißen Wächtern« vergeben?
Das Independent-Drama der US-Regisseurin Eliza Hittman, das hierzulande unter dem Titel »Niemals Selten Manchmal Immer« vertrieben wurde, erzählt von zwei Mädchen aus dem ländlichen Pennsylvania, die heimlich nach New York reisen, weil eine von ihnen ungewollt schwanger geworden ist und dort ohne elterliche Einwilligung eine Abtreibung vornehmen will. Der Film nimmt eine rigoros weibliche Perspektive ein und erzählt trotz trostloser Momente von Freundschaft und Solidarität.
Die Academy, der Alterrenklub?
Academy-Mitglied Merril, 80, reibt sich schon an der Inhaltsangabe. Wie das Branchenmagazin »Variety« berichtet, erklärte er in einem inzwischen gelöschten Instagram-Post: »Ich habe eine Kopie des Filmes bekommen, aber als Christ, Vater von acht Kindern und 39 Enkeln sowie als Pro-Life-Anhänger habe ich null Interesse daran, einer Frau dabei zuzuschauen, wie sie durchs Land reist, damit jemand ihr ungeborenes Kind ermorden kann.«
»Never Rarely Sometimes Always«-Regisseurin Hittman selbst machte auf den Vorgang aufmerksam und wandte sich öffentlich an die Academy. Sie fragte, ob sich das für die Oscar-Preisvergabe verantwortliche Wahlgremium aus »alten, weißen, puritanischen Wächtern« zusammensetze und ob sich noch weitere Academy-Mitglieder bewusst gegen die Sichtung ihres Filmes entschieden hätten.
Der Konflikt, so klein und persönlich er auf den ersten Blick erscheint, geht weit über den Einzelfall von Hittmans Abtreibungsdrama hinaus. Denn in den vergangenen Jahren wurde immer wieder angemahnt, dass die für die Vergabe der Oscars zuständige Academy diverser zusammengesetzt sein müsse, damit auch die ausgezeichneten Filme diverser werden können. Jahrelang galt der Verband mit seinen bis zu 10.000 abstimmungsberechtigten Mitgliedern als Altherrenklub.
Mehr Frauen, mehr People of Colour
Mehr Frauen, mehr People of Colour, mehr junge Leute – das war auch bei der Verleihung im vergangenen Jahr die Forderung. Von den 819 Einladungen, die dann im Juni von der Academy an Filmschaffende verschickt wurden, um sie als neue Mitglieder zu werben, gingen immerhin 45 Prozent an Frauen und 36 Prozent an Nichtweiße. Außerdem formulierte der Verband im vergangenen September Richtlinien, wonach auszeichnungswürdige Filme thematisch und personell vielfältiger werden sollen.
Dass nun ein alter, weißer Academy-Mann sagt, dass er sich aufgrund des Themas gar nicht erst mit einem Film beschäftigen werde, der auf Festivals und in Medien als Filmkunst gefeiert wird, macht deutlich, wie lang der Weg hin zu einer wirklichen Diversität für den Oscar noch ist. Die 93. Verleihung des Filmpreises findet in diesem Jahr aufgrund der Coronakrise erst am 25. April in Los Angeles statt.