Oscar-Favorit "Silver Linings" Die amerikanischste aller Krankheiten

Ein bisschen bipolar? Ein bisschen sexsüchtig? Im Oscar-Favoriten "Silver Linings" gibt es nichts, was ein Tanzwettbewerb und natürlich die Liebe nicht heilen könnten. Was als Satire auf die Selbsthilfekultur der USA startet, endet so in der Ideologie des Ego-Unternehmertums.
Oscar-Favorit "Silver Linings": Die amerikanischste aller Krankheiten

Oscar-Favorit "Silver Linings": Die amerikanischste aller Krankheiten

Foto: Senator

Man muss einen kleinen Umweg machen, um zu erklären, was genau an der Liebeskomödie "Silver Linings" so fürchterlich ist.

Der Umweg beginnt bei Susan Sontag und ihrem Aufsatz "Illness as Metaphor" ("Krankheit als Metapher"). "Jede Krankheit, die man als Geheimnis behandelt und heftig genug fürchtet, wird als im moralischen, wenn nicht wörtlichen Sinne ansteckend empfunden", schrieb die berühmte Kritikerin und Philosophin vor fast genau 35 Jahren. In dem Essay arbeitete sie heraus, wie erst Tuberkulose, später Krebs künstlerisch und gesellschaftlich so überhöht wurden, bis die Krankheiten kaum mehr als Gebrechen, denn als Ausdruck eines emotional-geistigen Missstands begriffen wurden, den der Erkrankte letztlich sich selbst zuzuschreiben hatte. Tuberkulose wurde so zur Künstlerkrankheit, die zu empfindsame Wesen dahinraffte. Und Krebs traf jene, die zu lange ihre emotionalen Bedürfnisse vernachlässigt hatten.

Was psychische Erkrankungen betrifft, leistet David O. Russell nun mit "Silver Linings" einer ähnlichen Verzerrung Vorschub. Seine Protagonisten Pat (Bradley Cooper) und Tiffany (Jennifer Lawrence) haben beide Zeit in der Psychiatrie verbracht. Beim gemeinsamen Abendessen bei Freunden tauschen sie sich über Psychopharmaka aus. Und so nüchtern wie sie Nebenwirkungen abwägen ("Trazodone knipst dir echt die Lichter aus"), so überfordert reagieren ihre Eltern, bei denen sie jeweils wieder eingezogen sind.

Sobald sich Pat seine Joggingsachen anzieht, springen seine Eltern alarmiert aus den Fernsehsesseln. Besser keinen Schritt aus dem Haus sollte der Mittdreißiger, bei dem eine bipolare Störung diagnostiziert wurde, machen. Und auch Tiffanys Dad ist froh, dass sich seine Tochter im Garagenhäuschen eingerichtet hat, obwohl sie Mitte 20 und schon mal verheiratet gewesen ist. Schließlich kämpft sie mit Sexsucht. Und wer weiß schon, wen sie sich das nächste Mal schnappt, wenn sie unterwegs ist. (Als Zuschauer weiß man es ab der ersten Minute, in der sich Pat und Tiffany begegnen, aber das ist noch verzeihlich, weil genrebedingt.)

Kämpfen, bis die Polizei kommt

Zwei Parias finden also aller widrigen Umstände zum Trotz zusammen - mit dieser Geschichte, basierend auf einem Roman von Matthew Quick, hat Russell in den USA Kritiker und Zuschauer hingerissen. Bei den Golden Globes sind Film, Drehbuch und Hauptdarsteller mit Nominierungen bedacht worden, ähnliches wird für die Oscars vorhergesagt. Der oberflächliche Reiz der Konstellation von "Silver Linings" erschließt sich dabei sofort: Pat und Tiffany sind damaged goods; Menschen, die nicht mehr funktionieren können oder wollen. Sie suchen Zuflucht bei ihren Familien. Doch die können keinen Schutz bieten, weil auch sie dysfunktional sind. Bei Pat eskaliert ein Konflikt zwischen ihm und seiner Mutter (Jacki Weaver) sogar so dramatisch, dass die Nachbarn die Polizei rufen, weil sich der Zwist zur lautstarken Rauferei mit seinem Vater (Robert De Niro) ausgeweitet hat.

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Liebeskomödie "Silver Linings": Alles nur halb so kaputt

Foto: AP / The Weinstein Company

In solchen Momenten ist "Silver Linings" stark, dann herrschen rohe Emotionen und der Schrecken vor, dass man sich in Pats Familie womöglich tatsächlich nicht helfen kann - weder gegenseitig noch sich selbst. Denn Pat hat seine Veranlagung zur Gewalt offensichtlich vom Vater geerbt, und der weiß damit ebenso wenig umzugehen. Wenn Pat dazu noch eine Mülltüte über seine Joggingsachen anzieht, damit er beim Sport mehr schwitzt, und mantraartig Sätze aus Selbsthilfebüchern wiederholt, nach denen sich an jedem Horizont der titelgebende silver lining, also Silberstreifen abzeichnet, dann scheint Hilfe in wirklich weiter Ferne zu sein.

Juju hilft immer

Oder auch nicht. Denn da ist ja Tiffany, die Pat wortwörtlich hinterherläuft, indem sie ihm beim Joggen auflauert. Warum sie das tut? Erschließt sich nicht. Genauso wenig wie der Umstand, warum sie ihm beim ersten Date aus dem Nichts heraus sexuelle Belästigung vorwirft, um sich dann ebenso schnell mit ihm zu versöhnen. Russell verlangt seinem Publikum ein ums andere Mal einen riesigen Vertrauensvorschuss ab, auf dass er schon wisse, wohin er mit der Geschichte will. Was okay wäre, wenn er denn in interessante, chaotische, verstörende Bereiche des menschlichen Zusammenseins vorstoßen würde.

Doch zur Mitte des Films kippt die zunächst wilde Mischung aus komödiantischen und tragischen Momenten vollends ins Erbauliche. Tiffany erreicht mit einem Trick, dass Pat mit ihr an einem Tanzwettbewerb teilnimmt, für den sie wochenlang trainieren müssen - und siehe da: Was acht Monate Psychiatrie und genau dosierte Psychopharmaka nicht heilen konnten, lässt sich durch Disziplin und die richtige Partnerin in Rekordzeit beheben. Dass Bradley Cooper ("Hangover") und Jennifer Lawrence ("Hunger Games") zudem zu den propersten und sympathischsten der neueren Hollywood-Stars gehören, erstickt den letzten Funken Gefahr, der noch Feuer schlagen könnte.

"Juju" heißt im Film die Form des Wunschdenkens, nach der Pats Vater viel zu riskante Sportwetten abschließt und dennoch gewinnt. Juju ist aber auch das Erzählprinzip, nach dem Russell seinen löchrig geploteten Film aufbaut. Und Juju ist auch das kostengünstige Allheilmittel, mit dem alle seelischen Verletzungen und Erkrankungen in "Silver Linings" kuriert werden. Gemeint ist der unerschütterliche Glaube an sich selbst und an die Kraft, sich neu erfinden zu können. Als Satire auf die Selbsthilfeideologie der USA gestartet, bestätigt der Film gegen Ende umso leidenschaftlicher deren Prinzipien.

Als Running Gag lässt Russell einen Nachbarsjungen an Pats Tür läuten und belustigt danach fragen, ob er ihm ein Zeitungsinterview über seine Geisteskrankheit gibt. Als Antwort erhält der Kleine mehrfach ein Nein, schließlich eins aufs Maul. Eigentlich verfährt Russell genauso unernst mit den Erkrankungen seiner Figuren. Der große Unterschied ist nur: Er wird dafür belohnt.

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