Oscar-Nominierungen Hollywood mag's rabiat

Die Mitglieder der Academy hatten alterstechnisch gesehen schon immer ein Herz für die Extreme: Jugendliche Quertreiber und renitente Alte, die noch einmal zum Selbstbehauptungskampf antreten, sind die Lieblingshelden der Oscar-Verteiler - und die Darsteller dieser Figuren folglich potentielle Oscar-Preisträger. Noch nie zeigte sich diese Vorliebe der Academy so deutlich wie in diesem Jahr bei den Nominierungen in der Kategorie beste Hauptdarstellerin.
Meryl Streep, Jahrgang 1949, hat ja inzwischen ein Dauerabo für die Oscar-Verleihung. Diesmal ist sie in Nora Ephrons launiger "Ich koche mich frei"-Komödie "Julie & Julia" dabei, übrigens ihre 16. Nominierung insgesamt. Längst ist die einst goldene Regel, dass eine Schauspielerin jenseits der 40 einpacken kann, ohne Gültigkeit. Jetzt packt sie mit 60 erst mal richtig aus.
Das gilt auch für die Britin Helen Mirren, die vor drei Jahren für ihre Darstellung in "Die Queen" als bester Leading-act-Oscar-prämiert wurde - um nun mit 64 Jahren ein zweites Mal nominiert zu sein, nämlich für die Verkörperung der stolzen Gattin Leo Tolstois in Michael Hoffmans Drama "Ein russischer Sommer". Den Darsteller des grantigen Romanciers selbst, den 80-jährigen Christopher Plummer, hat sie mit ihrer bravourösen Darstellung gleich auch noch zu Höchstleistungen angetrieben; er steht auf der Liste der besten Nebendarsteller. Lauwarmer Lebensabend? Nö, in Hollywood herrscht zurzeit eher ein heißer Herbst.
Oder eben ein besonders kalter Frühling. Gleich zwei gewagte Adoleszenzdramen sind nämlich auch in der Kategorie Hauptdarstellerin vertreten. Für Lone Scherfigs "An Education", einem kühlen erotischen Erweckungstrip am Vorabend der Beatlemania, steht die Engländerin Carrey Mulligan auf der Liste. Die Schauspielerin selbst ist bereits 24, ihre Figur 16. Ähnlich verhält es sich bei der Afro-Amerikanerin Gabourey Sidibe, die mit 25 in Lee Daniels' "Precious" eine isolierte und missbrauchte 16-Jährige spielt. Doch egal, ob die Aktricen nun Teenager oder Twenty-Somethings sind - sie bringen doch eine Frische und Brisanz jenseits aller weiblichen Hollywood-Rollenmuster ins Oscar-Rennen.
"Precious" steht zudem für ein gutes Gespür für die Themen der Jetzt-Zeit. Ob Teenagerschwangerschaften, moderne Kriegsführung oder die bizarren Entfremdungstechniken der modernen Arbeitswelt - für all dies hat Hollywood im vergangenen Jahr kluge unverbrauchte Erzählformen gefunden, die nun nominierungsreich von der Academy gewürdigt wurden. So gibt es für Jason Reitmans grandios inszenierte Vielfliegersatire "Up In The Air", in der das Meilensammeln für einen Unternehmensberater als Ersatz für ein Sozialleben herhält, gleich fünf Nominierungen, unter anderem für Regisseur Reitman und Hauptdarsteller George Clooney.
Ausfallschritt aus der tradierten Trophäenchoreografie
Vom upgraden und downsizen im Corporate America zum Befrieden und Befeuern des Mittleren Ostens: Extrem unversöhnlich schildert Kathryn Bigelow in "The Hurt Locker - Tödliches Kommando" das Leben eines Bombenentschärfers im Irak - und liefert allein schon durch die konsequent eingehaltene Perspektive die pessimistischste aller Erzählformen. Gleich sensationelle neunmal wurde dieses zermürbend tickende Actiondrama nominiert, eine extrem mutige Entscheidung der Academy-Mitglieder.
Auch in Sachen Geschichtsdramen haben die Verantwortlichen einen Ausfallschritt aus der tradierten Trophäenchoreographie gewagt. Holocaust- und Weltkriegsdramen haben ja allgemein ein Freiticket zur Preisverleihung in L.A., egal wie gut sie sind. Jetzt wurden im großen Stil gleich zwei Produktionen berücksichtigt, die beide auf ihre Art radikaler nicht sein könnten: Quentin Tarantinos NS-Widerstands-Fantasmagorie "Inglourious Basterds" wurde gleich in sieben Kategorien nominiert, Michael Hanekes Faschismus-Horrorballade "Das weiße Band" immerhin in zwei - nämlich nicht nur als bester fremdsprachiger Film, sondern auch für Christian Bergers grausam tiefenscharfe Kameraarbeit.
Nazi-Action als Zitatrausch, Faschismus als frühkindliche Prägung - den leicht verdaulichen, folkloristischen Herangehensweisen ans Geschichtsdrama erteilen beide Filme eine brutale Absage. Umso erfreulicher, dass durch beide gleich zwei deutschsprachige Künstler ein Ticket nach Hollywood erhalten: der Österreicher Christoph Waltz, der für seinen grandiosen Auftritt als Nazi in "Inglourious Basterds" als bester Nebendarsteller aufgestellt wurde, und sein Landsmann Haneke für seinen schonungslosen Regie-Blick in schwärzeste Bereiche der deutschen Seele.
Erfreulich radikale Nominierungen
Haneke steht ja schon länger unter Beobachtung wichtiger US-Produzenten. Mit seiner souveränen amerikanischen Arbeitsprobe "Funny Games U.S." und seinem jüngsten Meisterwerk in der Hinterhand könnte er bald zu den ganz wenigen deutschsprachigen Regisseuren gehören, die in Hollywood zu eigenen Bedingungen Fuß fassen.
Die Vergangenheit und die Gegenwart finden in den Oscar-Nominierungen also mittels verschiedenster Filme erfreulich radikal Eingang. Und die Zukunft? Na ja, die kann in einem Jahr, in dem Hollywoods größtes Spielkind James Cameron nach über einem Jahrzehnt endlich wieder einen Blockbuster fertig hat, nur durch einen vertreten sein: durch ihn selbst. Die neun Nominierungen - für jemanden wie Cameron, der für "Titanic" 1998 immerhin in 14 Kategorien genannt war, Standard - sind durchaus berechtigt. Dramaturgisch mag "Avatar" Bausatzkino sein, aber auf der visuellen und metaphysischen Ebene eröffnet der Cyber-Indianerwestern tatsächlich neue Dimensionen.
Pikanterweise wird Cameron bei der Oscar-Vergabe im März gegen seine genauso oft nominierte Ex-Frau Kathryn Bigelow antreten. Der ewige Nerd ist inzwischen ja auch schon 55, sie 58 Jahre alt: Was für eine wunderbare Schlacht der fortgeschrittenen Regie-Semester. Noch so ein heißer Herbst made in Hollywood.